Wir gehen der Botschaft des letzten Gerichts gerne aus dem Weg und betonen Gottes Gnade. Doch wäre ein immer begnadigender Gott auch ein guter Gott?
Vor mehr als vier Jahren veröffentlichte ich an dieser Stelle den Artikel "Richter oder Retter" - eine Aufforderung, darauf zu vertrauen, dass Gott ein gnädiger Richter ist. Ein Richter, der unsere Fehlbarkeit sieht und uns in Jesus Christus vollumfängliche Gnade anbietet. So weit so gut - ich stehe noch immer voll und ganz dahinter. Doch die Predigt "Klagen statt Jammern" hat mich noch einmal ins Nachdenken gebracht. Ist die Geschichte vom gnädigen Richter vielleicht doch nicht sehr einseitig? Sie dient vielleicht meiner Beruhigung - aber ist sie auch die ganze Wahrheit?
Fragwürdige Richter
Stell dir vor, du lebst in einem Land, in dem die Obrigkeit es nicht so genau nimmt mit dem Gesetz. Die Regierung bereichert sich selbst, die Richter sind korrupt. Würde dich die Polizei unter dem Deckmantel Razzia deines gesamten Hab und Guts berauben - du hättest keine Macht, dich zu wehren. Die Justiz ist dafür bekannt, dass sie Polizei immer freispricht. Die dir widerfahrene Ungerechtigkeit wird nicht gesühnt werden.
Oder stell dir einen Richter vor, der mit dem Alter milde geworden ist. Zu milde. Ob ihm nun Diebe, Vergewaltiger oder Mörder vorgeführt werden - immer hat er vollstes Verständnis für die besonderen Umstände der Täter. Er kann ihre Beweggründe nachvollziehen. Und immer - egal was vorgefallen ist - spricht er sie vollumfänglich frei.
Möchtest du in so einem Staat leben? Möchtest du eine solche Justiz?
Warum nicht?
Ein einseitiges Bild
Ich habe festgestellt, dass meine einseitige Konzentration auf die richterliche Gnade Gottes stark von der unbehaglichen Vorstellung getrieben ist, einmal selbst als Angeklagter vor Gericht zu stehen. Von der Angst, für Fehler verurteilt zu werden, die ich in Momenten der Schwachheit beging. Natürlich wünsche ich mir in dieser Situation einen gnädigen Richter. Doch was ist mit dem Kläger? Dem Kläger, dem - vielleicht von mir - echtes Unrecht angetan wurde? Der schmerzhaften Demütigung, schwerem Missbrauch oder lebensbedrohlichen Verletzungen erlebt hat? Wünscht sich das Opfer einen gnädigen Richter? Wohl kaum. Eher doch einen gerechten, ja, vielleicht sogar einen harten Richter. Für den Kläger ist der Richter gut, der unvoreingenommen der Gerechtigkeit und dem Gesetz verpflichtet ist. Ein Richter voller Gnade? Für das Opfer eine schlimme Vorstellung. Das Unrecht würde nicht als solches anerkannt, das Opfer noch zusätzlich gedemütigt.
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Aber ich bin ja privilegiert. Sitze im geheizten Haus auf meinem weichen Sofa, checke im App meinen Kontostand und mache mir Sorgen, dass Gott mir am letzten Gericht meine geheimen Lieblingssünden vorhält und mich dafür verurteilt. Ich wünsche mir den gnädigen Richter. Ich brauche Gott nicht, um mir Gerechtigkeit zu verschaffen. Zumindest gibt mir mein staatliches und soziales Sicherheitsnetz dieses Gefühl. Ich profitiere von einem sicheren Job, einem funktionierenden Staat, von Schutz vor Willkür und - last but not least - meiner Rechtsschutzversicherung. Letztes Gericht? Unnötig! Ich habe niemanden zu verklagen und will schon gar nicht auf der Anklagebank sitzen. Bitte kurz, schmerzlos und gnädig.
Doch was ist mit den Kriegswaisen in der Ukraine? Dem Thai-Mädchen, das von seiner Familie zur Prostitution verkauft wurde? Dem inhaftierten Pastor in der Türkei? Der ausgenutzten Näherin in Bangladesch? Dem Kindersoldaten in Mali? Dem getöteten Baby im Mutterleib? Wer verschafft ihnen Gerechtigkeit? Wer richtet das, was ihnen an Unrichtigem, an Unrecht widerfahren ist? Wer bringt denen Gerechtigkeit, die sie zu Lebzeiten nie erfahren hatten? Brauchen wir wirklich einen Richter, der einfach nur gnädig ist und über alles hinwegsieht? Ich glaube, ein solcher Richter am Ende der Zeit wäre nicht nur unpassend, sondern schlichtweg unerträglich.
Des Klägers letzte Hoffnung
Unter diesen Vorzeichen verstehe ich plötzlich, warum das Bild des Richters zum Beispiel in den Psalmen so oft als ein Bild der Hoffnung verwendet wird. Für ein Opfer, für einen berechtigten Kläger ist ein gerechter Richter eben nicht eine Schreckensvorstellung, sondern der sprichwörtliche Lichtblick am Ende des Tunnels. Plötzlich machen Bibelverse Sinn, wie z.B.
Denn der HERR ist unser Richter, der HERR ist unser Meister, der HERR ist unser König; der hilft uns! (Jesaja 33,22)
oder
Der HERR schafft Gerechtigkeit und Recht allen, die Unrecht leiden. (Psalm 103,6)
Wenn kein Gericht der Welt mein Unrecht sieht - Gott sieht es. Wenn sich kein Mensch meiner Sache annimmt, keine menschliche Justiz das mir widerfahrene Unrecht beseitigt - ich darf darauf vertrauen, dass der gerechte Richter und Herr sich meiner Sache annehmen wird.
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Übermenschliche Gerechtigkeit
Okay, was ist Gott nun? Ein gerechter Richter, der die Täter zur Rechenschaft und Verantwortung zieht? Oder aber ein gnädiger Richter, welcher für jede noch so schlimme Verfehlung vollumfängliche Begnadigung anbietet? Nun, die Antwort für beides ist ein klares: JA! Ja, Gott ist gerecht, er nimmt sich der Sache der Opfer an. Und ja, Gott ist gnädig und lässt die Menschen seine Gnade grosszügig erfahren. Sowohl als auch.
Ein Ding der Unmöglichkeit? Für einen menschlichen Richter wohl schon. Aber für Gott, den Herrn, den Schöpfer von Himmel und Erde? Ich glaube nicht. Ich glaube, dass er eine Gerechtigkeit verkörpert und spricht, die für uns Menschen nur noch ein wunderbares Mysterium sein kann. Wie er das tun wird ist uns verborgen. Vielleicht bedeutet ja Gerechtigkeit schaffen nicht immer, die Täter zu bestrafen. Vielleicht hat es auch vielmehr damit zu tun, gerade den Opfern in der Ewigkeit ihre Leiden hundertfach mit Freude aufzuwiegen. Könnten so vielleicht Gnade und Gerechtigkeit vereint werden? Ich weiss es nicht, kann nur spekulieren. Aber Gott weiss es. Und darum glaube und vertraue ich darauf, dass er in seiner göttlichen Vollkommenheit diese scheinbaren Gegensätze von Gnade und Gerechtigkeit vereinen wird.
Manchmal fühle ich mich machtlos in einer ungerechten Welt, in der ich als einzelner Mensch vieles an Unrecht nicht beheben kann. Die Hoffnung auf eine letztes Gericht heisst ja nicht, dass ich mich aus der Verantwortung stehlen kann. Wo immer wir etwas gegen Ungerechtigkeit tun können, sind wir gerufen, es auch zu tun. Doch all unsere Anstrengungen werden niemals genügen, alles Unrecht aus der Welt zu schaffen. Und so können wir unser Engagement am Ende des Tages auch immer wieder in Gottes Hand abgeben: Er ist es, der letzten Endes Gerechtigkeit schaffen wird.
Gott der gerechte Richter - das bedeutet Hoffnung für den Kläger und Hoffnung für den Angeklagten. Dafür bin ich zutiefst dankbar.
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Zum Schluss dieser Gedanken möchte ich dich einladen, mit mir für die Menschen zu beten, die allen Grund zur Klage haben. Seien das Kriegsopfer, Opfer von Menschenhandel, Missbrauch oder sonstiger Gewalt. Ja, wir fühlen uns machtlos, wenn wir uns das Elend der Welt vor Augen führen. Aber wir beten zu dem, der von sich sagt: "Ich habe von Gott alle Macht im Himmel und auf der Erde erhalten. (Matthäus 28,18)". Möge er sich der Sache der Opfer annehmen - möge er ihnen Frieden schenken. Einmal im Himmel - und auch jetzt schon auf Erden.