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Der Heiland und die Sachsen

Lukas Lukas

Mit Gewalt jemanden zu überzeugen, hält nur so lange, wie die Gewalt anhält. Das musste der fränkische Kaiser Ludwig der Fromme wohl festgestellt haben, nachdem sein Vater Karl der Grosse gegen Ende des 8. Jahrhunderts die Sachsen in einem 33-jährigen Krieg erobert und zwangschristianisiert hatte. In Sachsen flammten auch unter Ludwigs Herrschaft lange nach der brutalen Niederwerfung noch immer Aufstände auf.

Die Sachsen waren ein germanischer Völkerverband, der im heutigen Norddeutschland siedelte. Als Kriegergesellschaft lehnten sie die biblische Botschaft ab. Besonders das Konzept eines vergebenden Gottes, der sich seinen Feinden ohne Gegenwehr hingibt und auch Feiglinge rehabilitiert (siehe Petrus), war für die von einem nahezu spirituellen (im Vergleich zu heute viel bedeutungsschwereren) Konzept von Mut bestimmten Sachsen absurd.

Portrait of a Medieval warrior
Photo by Gioele Fazzeri / Unsplash

Deswegen vergibt Ludwig um 830 n.Chr. den Auftrag, ein Werk in altsächsischer Sprache zu verfassen, welches die Botschaft der Evangelien so vermitteln soll, dass die Sachsen diese verstehen – und davon überzeugt werden. Das Resultat ist heute als Evangeliumdichtung «Heliand» bekannt, betitelt mit dem altsächsischen Wort, das wir heute als «Heiland» kennen.

Jesus als Superheld?

Im Heliand wird die Geschichte von Jesus wie ein typischer Heldenepos in Versen erzählt und dem sächsischen kulturellen Kontext und Verständnishorizont stark angepasst. Im Heliand ist Jesus ein grosser Krieger (Degen) und seine Jünger sind ebenfalls Krieger (Recken), die ihn bei seinen Heldentaten im Kampf gegen das Böse begleiten (Gefährten). So heilt Jesus beispielsweise die Kranken von den Beschwerden, die ihnen die «Menschenkindern Feinde» zugefügt haben. Sein Kreuzestod ist der ultimative Sieg gegen das Böse. Damit müssen sich die mutigen Sachsen gut identifiziert haben können.


Photo by Gioele Fazzeri / Unsplash

Wie wird im Heliand mit den oben angesprochenen Konzepten von Vergebung für Feiglinge umgegangen, welche die Sachsen kategorisch ablehnen? Für die Sachsen ist die Flucht im Kampf eine unverzeihliche Schande. Und gerade Petrus, der als enger Vertrauter von Jesus in den Evangelien heraussticht, kann als Prototyp eines Feiglings gelten, da er Jesus im entscheidenden Moment des geistlichen Kampfes dreimal verleugnet (siehe zB. Lukas 22,56-62).

In den Evangelien ist die Reaktion von Petrus auf seinen Verrat nur in einem Satz zusammengefasst: «Und er ging hinaus und weinte bitterlich.» Im Heliand wird der Reaktion von Petrus auf seine Feigheit in rund 60 (!) Versen beschrieben und erklärt. Zentral darin ist die Beschreibung von Petrus Reue, gefolgt von einer Anmerkung des Autors, dass menschlicher Mut ohne Gottes Kraft wirkungslos sei. Petrus’ Feigheit wird im Heliand durch die Darstellung seiner Haltung und die Einbettung in Gottes Heilsplan etwas relativiert, damit die darauf folgende Vergebung für Petrus durch Jesus für die Sachsen plausibler wird.

Portrait of a Medieval warrior
Photo by Gioele Fazzeri / Unsplash

Konfrontation oder Kontextualisierung?

Ob und wie Heliand das Verhältnis der sächsischen Bevölkerung zum christlichen Glauben veränderte, ist mit den vorhandenen Quellen schwer zu beurteilen. Der im Heliand dargestellte Kriegergott Jesus wird zumindest im Mittelalter seine Repräsentanten finden – beispielsweise in den Kreuzfahrern, die als Gotteskrieger die Waffenrüstung des Glaubens (Epheser 6) nicht symbolisch, sondern wörtlich nehmen – was im Lichte des Lebens Jesu doch sehr problematisch ist.

Am «Heliand» wird deutlich, wie die Botschaft des Evangeliums in der Begegnung mit einer nicht-christlichen Kultur immer in einem Spannungsfeld zwischen Konfrontation und Kontextualisierung steht.

A Crusader on the city walls of Visby (Medieval Festival)
Photo by Jens Auer / Unsplash

Wird die Botschaft von Jesus zu fest an den kulturellen Kontext angepasst, wird sie darin untergehen oder es bilden sich (zerstörerische) Vermischungen. Die heilsame Konfronation mit dekonstruktiven Ideen einer Kultur fehlt. Ist sie zu konfrontativ vermittelt, werden die Menschen keinen Zugang finden zur Botschaft, die eigentlich eine frohe ist und das Potential hat, Leben nachhaltig positiv zu verändern.

Geschlagen mit den eigenen Waffen

In seinem Buch «Center Church» geht Pastor Timothy Keller auf dieses Spannungsfeld ein. Er definiert die Teile, die eine Kultur an der biblischen Botschaft bejaht, weil sie selbst davon überzeugt ist, als A-Lehre. Die Sachsen mochten die Idee, dass Jesus ein mutiger Krieger war, der das Böse aus der Welt schaffen wollte, weil das sowieso ein wichtiger Wert in der sächsischen Kultur war. Eine B-Lehre ist der Teil des Evangeliums, die eine Kultur ablehnt, sie konfrontiert die Kultur. Bei den Sachsen ist das beispielsweise die Vergebung für Feiglinge.

Keller behauptet schliesslich:

Die Konfrontation der Kultur (B-Lehre) muss auf Grundlage der guten, richtigen Ansätze einer Kultur (A-Lehre) geschehen.

Grundlage für diese Form von Konfrontation ist das Eintauchen in die Kultur.

Biblische Wahrheit darf nicht einfach in ein Vakuum hineingesprochen werden, sondern muss auf die Fragen konkreter Menschen antworten – was voraussetzt, dass man ihre Kultur verstanden hat.
Keller, Center Church, S. 124.

Paulus macht das in Apostelgeschichte 17 im Kontext der griechischen Kultur vor. Nachdem er Athen besucht und die Götterstatuen studiert hat, spricht er die griechischen Philosophen auf ihren Glauben an, dass sie von Gott abstammen (A-Lehre, deckt sich mit der Bibel). Im Anschluss konfrontiert er auf Grundlage dessen den griechischen Glauben, dass man Gott nach eigenem Belieben in eigenen Abbildern anbeten kann (B-Lehre, Es gibt nur einen Gott).

Cronos
Photo by Francisco Ghisletti / Unsplash

Wenn wir von Gott geschaffen sind, wie kann es dann sein, dass wir ihn erschaffen haben? [...] Paulus zeigt ihnen, dass ihre Überzeugungen auf der Basis ihrer eigenen Denkvoraussetzungen ins Leere laufen. Er kritisiert den Götzendienst, indem er zeigt, dass dieser gar nicht zu dem eigenen (besseren) Gottesempfinden der Heiden passt. Seine Argumentation ist also: «Wenn ihr über Gott A glaubt, wie könnt ihr dann B glauben?
Keller, Center Church, S. 128.

Für die Sachsen hätte die vielleicht so lauten können (nur ein Versuch): Wenn sich Gott nicht zu schade war, für einen einzelnen Menschen in einem fürchterlichen Kampf das Böse zu besiegen, warum sollte das Mass an Mut dieses Menschen daran etwas ändern?

Eine Frage der Beziehung

Erst wenn dem Gegenüber klar wird, dass seine Überzeugungen in diesem Bereich ins Leere laufen, kann eine Einladung für die gute Nachricht von Jesus erfolgen. Diese gute Nachricht ist dann die Antwort auf eine kulturelle Sackgasse.

Diesen dreiteiligen Prozess nennt Keller die aktive Kontextualisierung:

  1. Eintauchen in eine Kultur (Anknüpfen)
  2. Konfrontation der Kultur (Kritik)
  3. Einladung an die Zuhörer (Aufruf)

Lange Rede, langer Sinn: Sich mit einem Menschen auseinanderzusetzen, in seine Lebenswelt abzutauchen und seine Fragen und Überzeugungen nicht nur zu kennen, sondern auch zu verstehen und wertzuschätzen – sprich, einen Menschen zu lieben – ist zentral dafür, dass die gute Nachricht konfrontieren und als Einladung verstanden werden kann.

Der Heliand war vermutlich nicht der glücklichste Versuch einer Kontextualisierung des Evangeliums. Doch diese sprachliche Meisterleistung in rund 6000 Versen (der Heliand gilt als grösstes Werk der altsächsischen Sprache) zeigt, dass jemand (der unbekannte Autor) sehr tief in jene Kultur eigetaucht ist, sogar einer von denen geworden ist. Das erinnert an Jesus, nicht?

Der Heiland und die Sachsen
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