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Kapitulieren oder kreativ kämpfen?

Emanuel Hunziker Emanuel Hunziker

Was machst du, wenn sich deine wohlüberlegten Pläne kurzerhand als nutzlos entpuppen und du vor dem Nichts stehst?

Dieser Frage musste sich auch Ella Fitzgerald stellen, als sie am 21. November 1934 an einem Talentwettbewerb im legendären Apollo Theater in Harlem teilnahm, das erst kurz zuvor für ein afroamerikanisches Publikum zugänglich gemacht wurde. Als Vollwaise aus armen Verhältnissen, die auf den Strassen New Yorks ums Überleben kämpfte, hatte sie nichts zu verlieren. Sie war leidenschaftliche Tänzerin und wollte ihr Können zum ersten Mal vor Publikum unter Beweis stellen.

Als der Moment ihres Auftritts gekommen war, zitterten ihr jedoch vor Aufregung die Beine, da vorher bereits die Gruppe Edwards Sisters unter Applaus vorgetanzt hatte. Was sollte sie nun tun? Aufgeben? Wegrennen? Trotzdem vortanzen und sich blamieren? Losheulen und sich verkriechen?

Vielleicht kennst du solche Momente aus deinem eigenen Leben. Für mich war das vergangene Jahr ein einziger solcher Moment. Wir hatten Pläne. Corona hat sie zu Nichte gemacht. Was tun, wenn man nicht mehr tun darf, was man am besten kann? Was tun, wenn das, wofür man leidenschaftlich brennt, nicht stattfinden darf? Kürzlich schnappte ich zufällig diese erstaunliche Geschichte auf, über die Anfänge einer der grössten Jazz-Legenden, die mich nicht mehr losliess.

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Apollo Theater um 1930 / Photo by New York Daily News

Die siebzehnjährige Ella entschloss sich an dem besagten Abend zu kämpfen. Und zwar auf ihre eigene, kreative Art. Doch Tanzen war keine Option mehr. Ihre Konkurrentinnen waren schlicht unschlagbar und hatten sich in die Herzen des Publikums getanzt. "Was nun?" fragte sich Ella und starrte verzweifelt auf den Boden. "Was kann ich sonst noch gut?" Sie musste nicht lange überlegen, da schoss es ihr durch den Kopf: "Singen!" Ella erschrak bei diesem Gedanken. Konnte das gutgehen? Sie hatte weder geübt, noch war sie eingesungen, geschweige in Stimmung dazu. Singen war ihre zweite grosse Leidenschaft neben dem Tanzen. Sie sang bisher aber nur für sich alleine. Denn wer singt, gibt viel von sich Preis. Sehr viel. Durch die schwere Zeit als Vollwaise auf den Strassen New Yorks hatte sie sich einen robusten Panzer zugelegt, um sich vor Ablehnung zu schützen. War sie im Stande, diesen einfach so abzulegen und ihr Herz zu öffnen? Sie musste es zumindest versuchen. Alles auf eine Karte setzen. Vogel friss oder stirb. Alles oder nichts. Es gab es kein Zurück mehr. Nur noch die Flucht nach vorn.

Unter heftigem Herzklopfen und mit weichen Knien schritt sie entschlossen auf die Bühne ins blendende Scheinwerferlicht. Das Publikum war immer noch fasziniert und aufgeheizt von der Tanzeinlage der Edwards Sisters, die kurz zuvor die Bühne verlassen hatten. Der Moderator kündigte ihre Performance an. Ella atmete noch einmal tief durch und dachte dabei an ihre Mutter, wie so oft, wenn sie sich schutzlos und alleine fühlte. 2 Jahre war es her, seit ihrem Tod. Wie sehr wünschte sie sich, ihre Mutter wäre jetzt bei ihr. Der Moderator schloss seine Überleitung mit den Worten: "Verehrtes Publikum, Bühne frei für diese bezaubernde junge Dame, Ella Fitzgerald!"

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Talentnacht im Apollo / Photo by Allthatsinteresting.com

Für einem Moment wurde es still im Saal. Ella spürte die Hitze des Scheinwerfers auf ihrem Gesicht. Alleine stand sie da, die kleine Ella auf der grossen Bühne. Vor ihr das Mikrophon. Die Ränge des Apollo Theaters bis auf den letzten Platz gefüllt mit Zuschauern allen Alters, die sie mit neugierigen Blicken anstarrten. Ella schluckte einmal leer, gab sich einen Ruck und begann ein Lied zu singen, dass sie in- und auswendig kannte. Es war ein Lieblingslied ihrer Mutter, dass sie jeweils zusammen sangen. Ein Lied, bei dem sie es gewohnt war, ihr Schutzschild abzulegen und ihr Herz weit zu öffnen:

"She's the one for me, heaven sent her to me, my Judy..."

Anfangs noch etwas zitternd, aber mit sanftem Einfühlungsvermögen und butterweicher Stimme, sang Ella Strophe um Strophe. Sie liess sich Zeit. Gemächliches Tempo. Nur ihre Stimme füllte den grossen, ehrwürdigen Saal des Apollo Theaters. Das Publikum reagierte umgehend. Doch die anfängliche Skepsis wich einem staunenden Stirnrunzeln. Entzückte Gesichter und offene Münder. Einige rieben sich dich Augen und fragten sich verdutzt: Ist das wirklich wahr, was wir gerade sehen und hören? Wie kann ein so junges, verwahrlostes Strassenmädchen so berührend und einfühlsam singen? Wo hat sie das gelernt? Wer hat ihr das beigebracht?

Je mehr das Publikum positiv reagierte, desto sicherer wurde Ella. Sie spührte Wertschätzung und Respekt. Sie fühlte sich getragen vom Wohlwollen und der Begeisterung der Zuschauer für ihre Darbietung. Die Verzweiflung wich einer unsäglichen Leichtigkeit. Oh, wie wunderbar es sich anfühlte.

Nachdem Ella die letzte Zeile von Hoagy Carmichel's Song 'Judy' beendete, brach das Publikum in tosenden Applaus aus! "Bravo!" riefen sie, "Das war grossartig! Wunderschön! Zugabe! Zugabe!" Ella konnte es kaum glauben. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Das Publikum war ausser sich und liess sich auch vom Moderator kaum beruhigen. Erst als dieser ausnahmsweise eine Zugabe erlaubte, setzten sich die Zuschauer wieder hin. Ella überlegte nicht lange und sang The Object of My Affection, das im selben Jahr ein Nummer eins Hit der Boswell Sisters war.

Was kurz zuvor noch als grosse Enttäuschung hätte enden können, verwandelte sich in einen überragenden Sieg: Ella Fitzgerald's Debüt im Apollo als Sängerin brachte ihr den ersten Platz im Talentwettbewerb ein! Der Rest ist Geschichte.

Über ihr Singtalent sagte Ella Fitzgerald (1917-1996) einmal:

»Ich bin kein Glamour-Typ. Es fällt mir schwer, vor einer Menschenmenge aufzutreten. Aber Gott gab mir dieses Talent, damit ich es nutze. Also stehe ich einfach da und singe.«

Was wäre wohl geschehen, wenn Ella in jener besagten Nacht nicht gesungen hätte? Wie wäre ihr Leben wohl verlaufen, wenn sie aufgrund der widrigen Umstände den Kopf in den Sand gesteckt hätte? Wahrscheinlich wäre sie weiterhin als obdachloses Mädchen in den Strassen New Yorks umhergezogen, ohne Hoffnung und Perspektive. Möglicherweise hätte sie auch eine zweite Chance erhalten und wäre Tänzerin geworden.

Mich hat diese Geschichte berührt. Das Leben voller solcher Momente. Unsere Entscheidungen von heute prägen unser Leben von morgen. Auf vieles haben wir keinen Einfluss. Auf welchem Erdteil wir geboren werden, in welche Familie und in welcher Zeit – all das ist gegeben. Was wir aus unseren Gaben und Möglichkeiten machen, liegt an uns. Insbesondere wie wir mit schwierigen, widrigen Umständen umgehen, prägt unseren Charakter nachhaltig und macht langfristig einen entscheidenden Unterschied.

Gott gibt uns Menschen Talente und Möglichkeiten. Das ist sein Geschenk an uns. Was wir daraus machen, wie wir sie einsetzen und nutzen, das ist unsere Geschenk zurück an Gott. Auf den ersten Blick scheint das eine unspektakuläre Wahrheit zu sein. Der zweite Blick lohnt sich. Mich hat diese Wahrheit jedenfalls neu berührt und inspiriert. Ich möchte die mir gegebenen Gaben und Möglichkeiten zu Gottes Ehre zu einsetzen.

Ein anderer grosser Künstler, Johann Sebastian Bach (1685-1750), wurde mit neun Jahren Vollwaise. Er hätte gute Gründe gehabt, Gott dafür anzuklagen und sich von ihm abzuwenden. Stattdessen verarbeitete er seinen Schmerz mit Musik, komponierte hunderte (möglicherweise sogar tausende) Werke und setzte die ihm von Gott gegebene Gabe zur Freude unzähliger Menschen und zu Gottes Ehre ein. Er signierte viele seiner Notenblätter mit dem Kürzel S.D.G. was 'Soli Deo gloria' bedeutet, 'Gott allein [sei] die Ehre'.

Wem gibst du die Ehre, wenn deine Pläne scheitern und es kein Zurück mehr gibt? Welche Gaben hat Gott dir geschenkt? Welche Möglichkeiten geöffnet?

Ich glaube, es liegt an uns, was wir daraus machen. Denn eines bleibt auch im Jahr 2021 nach Christus klar: Kapitulieren ist keine Option. Der einzige Ausweg führt mitten durch den Sturm der widrigen Umstände hindurch. Das ist der Weg, den uns Christus vorausgegangen ist. Wenn alles wankt, Christus bleibt! Das gibt uns Mut und Kühnheit, um unerschrocken, furchtlos und frei ins neue Jahr zu starten.

Jesus Christus ist und bleibt derselbe, gestern, heute und für immer. (Hebräer 13,8)

Kapitulieren oder kreativ kämpfen?
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