Ich schäme mich. Scham ist ein Lebensthema für mich. Ein schmerzhaftes. Die Gründe sind vielschichtig.
Ich durfte Gott sei Dank über die Jahre lernen, bei schmerzhaften Lebensthemen genau hinzuschauen. Einfach mal wahrnehmen. Nicht weg beten. Nicht betäuben. Nicht schubladisieren. Keine Sündenböcke suchen. Mich nicht selber verdammen und selbstkasteien. Nicht im Selbstmitleid versinken. Mich nicht in die Opferrolle flüchten. Sondern genau hinschauen. Licht ins Dunkel bringen. Frische Luft in die miefige Kammer strömen lassen. Hinhören. Raum geben.
Man wird ja nicht sofort vom Kind zum Mann. Es ist ein Prozess, der öfters auch schmerzt. Der Weg in die Selbständigkeit. Eigenverantwortung übernehmen. Profil zeigen. Zu einer Überzeugung gelangen. Mit beiden Beinen im Leben stehen. Gross träumen und dabei die Bodenhaftung nicht verlieren.
Kurz gesagt: Es geht darum, im Leben anzukommen. Das waren jedenfalls die Worte des Verantwortlichen der Entlastungswohngruppe, auf der unser behinderter Sohn mittlerweile einmal pro Woche übernachten darf. Es gefällt ihm dort. Er lernt dazu. Er findet ins Leben. In seinem Tempo. Er ist nun sieben und lernt gerade laufen. Noch wackelig, aber entschlossen. Wir sind überwältigt! Benaya ist ein Wunder Gottes! Ein progressives Wunder. Seine Welt wird für ihn immer zugänglicher und sein Radius grösser. Willkommen in der Welt der Fussgänger! Willkommen im Leben!
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Ins Leben finden
Ich bin ein Bauchmensch. Du willst mich in Rohform? Dann gib mir undefinierten Raum und ich werde ihn füllen. Du willst mich in geschliffener Form? Dann gib meinem Kopf Zeit zu studieren und nachzudenken und du kriegst eine differenzierte Analyse. Du willst mein Herz spüren? Dann lerne mich besser kennen und du erlebst den weichen Kern hinter harter Schale. Doch welcher Ansatz passt zu welcher Situation? Welcher Anteil ist in welchem Umfeld gefragt?
Im Leben ankommen, bedeutet auch dazugehören. Dabei sein dürfen. Anteilnehmen können. Mitlachen. Auch informiert sein. Nicht vergessen werden. Der Tanz der Annahme beginnt von Klein auf. Die Musik spielt und ein Reigen folgt dem anderen. Man muss Taktgefühl entwickeln. Melodien erkennen. Bewegungsmuster lernen. Den Einstieg finden. Den Anschluss nicht verpassen. Dabei bleiben bis zur letzten Strophe. Die Choreographie in Mark und Bein übergehen lassen. Klatschen, stampfen, jauchzen! Mitsingen. Spass haben!
Wir hatten keinen Fernseher, als ich klein war. Meine Schulkamerade hingegen schon. In der Pause wurden auf dem Schulhof Filmszenen nachgespielt und Filmzitate zum Besten gegeben. Ich war in der 2. Klasse. Crocodile Dundee war grad hoch im Kurs. Insbesondere die Szene mit dem Messer (siehe unten) bleibt bis heute legendär. Um nicht aufzufallen, lernte ich die Wortlaute der Filmszene von den Lippen meiner Klassenkameraden. Im passenden Moment gab auch ich sie zum Besten. Doch mein Auftritt misslang. Ich hatte zwar die richtigen Worte gelernt, aber in falscher Reihenfolge. So wurde ich ausgelacht. Sie wussten zwar immer noch nicht, dass ich den Film gar nie gesehen hatte, aber ich stand als schlechter Rezitierer da. Das tat weh.
Ich weiss nicht, ob es mit diesem Vorfall zu tun hat, aber ich entwickelte mich über die Jahre regelrecht zum Filmzitierer. Dafür verbrachte ich später Stunden vor der Glotze. Und mein Umfeld musste sich dauernd Filmzitate anhören. Ich entdeckte dabei auch eine Gabe von mir. Ich kann mich in andere hineinversetzen und ein Stück weit ihren Blickwinkel auf die Welt einnehmen. So lernte ich zig Sketche vom Emil Steinberger auswendig und performte sie im Klassenlager, an Hochzeiten und vor meiner Familie. Ich wählte die Rolle des Entertainers, die mir einen Platz in der Gemeinschaft verschaffte.
Heute schaue ich kaum mehr Filme. Und wenn, dann lerne ich keine Zitate mehr auswendig. Zitieren tu ich trotzdem nach wie vor gerne. Redewendungen, geflügelte Worte oder Liedtexte, die durch Stichworte in Aussagen meiner Mitmenschen aus meinem Hirnarchiv in Sekundenbruchteilen ins Bewusstsein geschleudert werden und die ich dann oft auch zum Besten gebe. Doch dieses Erlebnis auf dem Schulhof ist für mich aus heutiger Sicht eine Schlüsselszene für so viele Verhaltensmuster, die ich mir über die Jahre aneignete.
Was treibt mich an?
Als ich vor ein paar Jahren anfing, aus einer inneren Not heraus die Kernbotschaft des Christentums von Grund auf von A bis Z durchzukauen, stolperte ich u.a. über das Thema "Antrieb". Warum lebe ich, wie ich lebe? Warum tue ich, was ich tue? Was bezwecke ich damit? Was ist mein eigentliches Ziel? Oder eben: Was treibt mich an? "Mehr als was du treibst, interessiert mich, was dich antreibt." Ich stellte mit Schrecken fest, dass Scham ein grosser Antreiber von mir ist. Und ich dachte, v.a. meine Liebe zu Jesus treibt mich an. Ich liebe Jesus. Ich liebe ihn seit meiner Kindheit. Ich darf und kann Jesus lieben, weil er mich zuerst geliebt hat.
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Trotzdem schämte ich mich über viele Jahre hinweg für mein Dasein. Und ich versuchte, dieses negative, innere Gefühl durch Schuldbekenntnisse loszuwerden. Doch ich fiel immer wieder in dasselbe alte Muster zurück. Ich tat Dinge aus Scham. Ich tat Dinge um meine Scham zu verbergen. Ich versuchte dieses Schamgefühl loszuwerden. Zu überwinden. Zu besiegen. Ich probierte es mit schamlosem Verhalten. Doch danach schämte ich mich noch mehr. Ich versuchte eine Zeit lang ohne Gott zu leben. Doch es ergab für mich keinen Sinn. Ich versuchte es mit Leistung. Doch der Rausch der anerkennenden Belohnung blieb begrenzt. Ich probierte es mit Betäubung, doch das Erwachen war schlimm. Ich versuchte den Superchristen zu geben. Doch ich fühlte mich scheinheilig dabei.
Natürlich verlaufen solche Versuchsphasen nicht in klar abgrenzbaren, schwarz-weissen Mustern. Es ist eine Mischung aus echtem Leben und Verstecken spielen. Es geht dabei um Reife und Identität. Mit 20 Jahren fragte ich: Wer bin ich? Wer will ich sein? Wie will ich wahrgenommen werden? Ich suchte nach Antworten, orientierte mich an Vorbildern, probierte aus. Heute mit 41 Jahren frage ich mich: Wer bin ich wirklich? Und kann ich dazu stehen?
Es bleibt ein Prozess
Es ist noch nicht vorbei. Ich bin noch mittendrin im Prozess. Es fällt mir momentan noch leichter, Lieder von Jason Upton zu covern, als meine eigenen Songs zu spielen. Nicht, dass ich mich dabei nur wohl fühlen würde. Uptons Lieder sind anspruchsvoll zu singen. Sie sind eben auf Jason zugeschnitten. Es geht mir auch nicht darum, mich hinter seinen Songs zu verstecken. Ich versuche meine eigene Version zu finden. Seiner Route zu folgen gibt mir Sicherheit. Er singt so leidenschaftlich und echt. Genau das ist es, was ich auch für mich suche. Da will ich auch hin. Nicht nur als Musiker, sondern im Leben generell. Doch irgendwann will ich auch ankommen und muss den Sprung ins vermeintlich kalte Wasser wagen. Mich zeigen, wer ich bin. Zu mir stehen. Mich selbst sein. Echt sein. Original.
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Gerne predige ich auch die Predigten anderer. Da lernt man enorm viel. Und man sagte uns im Theologie-Studium, wir müssten das Rad nicht neu erfinden. So predige ich zur Zeit gerne Material von Tim Keller oder Johannes Hartl. Das hat auch mit Vertrauen zu tun. Es sind Männer Gottes, die Christus im Zentrum ihres Lebens haben. Und ich kann so persönliche Weiterbildung und Predigt-Vorbereitung verschmelzen. Ich mache mir die Botschaften zuerst zu eigen und gebe sie dann in meiner eigenen Version weiter. Es fällt mir nicht schwer, denn ich habe diese Gabe des Rezitierens über viele Jahre trainiert.
Es ist learning by doing. Das ist mein bevorzugter Lernstil. Mein dabei erworbenes Fachwissen und meine Erfahrungen kann mir niemand nehmen. Doch das persönliche Anwenden und das Definieren meines eigenen Stils muss ich schon selber machen. Lernen mein Profil zu zeigen und einen Standpunkt vertreten. Auch polarisieren und unangenehme Fragen stellen. Sich verletzlich zeigen und Schwäche zugeben.
Sich zeigen wie man ist
Ich lerne zurzeit, meine Scham nicht mehr als Ausrede zu benutzen. Mich zu zeigen, wie ich bin. Mich anderen zuzumuten. Auch mir selbst. Und erst recht Gott. Mich berühren die Begebenheiten zutiefst, wo Scham behaftete Menschen durch die reine Gegenwart von Jesus auf einmal Würde und Wert empfinden. Sie brechen aus ihrem Teufelskreis aus, durchbrechen die lähmende Apathie ihrer Scham und beten Jesus in einer unvergleichlich kostspieligen und leidenschaftlichen Form an.
Zachäus aber wandte sich an Jesus und sagte: »Herr, ich werde die Hälfte meines Vermögens an die Armen verteilen, und wem ich am Zoll zu viel abgenommen habe, dem gebe ich es vierfach zurück.«
In jener Stadt lebte eine Frau, die für ihren unmoralischen Lebenswandel bekannt war. Als sie erfuhr, dass Jesus im Haus des Pharisäers zu Gast war, nahm sie ein Alabastergefäß voll Salböl und ging dorthin. Sie trat von hinten an das Fußende des Polsters, auf dem Jesus Platz genommen hatte, und brach in Weinen aus; dabei fielen ihre Tränen auf seine Füße. Da trocknete sie ihm die Füße mit ihrem Haar, küsste sie und salbte sie mit dem Öl.
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Würde anstelle von Scham
Die liebevolle Annahme und Vergebung von Jesus bewegt auch mein Herz immer wieder aufs Neue. In seiner Nähe höre ich auf, meine Überforderung mit dem Leben und mir selbst zu verdrängen. Ich steh dazu, weil Jesus zu mir steht. Das öffnet meinen Herzensraum jeden Tag neu für den Heiligen Geist und seine lebendige, helfende und identitätsstiftende Kraft.
Alle, die sich von Gottes Geist regieren lassen, sind Kinder Gottes. Denn der Geist Gottes, den ihr empfangen habt, führt euch nicht in eine neue Sklaverei, in der ihr wieder Angst haben müsstet. Er hat euch vielmehr zu Gottes Söhnen und Töchtern gemacht. Jetzt können wir zu Gott kommen und zu ihm sagen: »Abba, lieber Vater!« Gottes Geist selbst gibt uns die innere Gewissheit, dass wir Gottes Kinder sind. Als seine Kinder aber sind wir – gemeinsam mit Christus – auch seine Erben. Und leiden wir jetzt mit Christus, werden wir einmal auch seine Herrlichkeit mit ihm teilen.
Mein himmlischer Vater setzt sich persönlich dafür ein, dass meine Scham nicht zur Schau gestellt wird. Er umhüllte mich mit seinem Mantel und adoptierte mich als sein eigenes, geliebtes Kind.
›Vater‹, sagte der Sohn zu ihm, ›ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt; ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden.‹ Doch der Vater befahl seinen Dienern: ›Schnell, holt das beste Gewand und zieht es ihm an, steckt ihm einen Ring an den Finger und bringt ihm ein Paar Sandalen! Holt das Mastkalb und schlachtet es; wir wollen ein Fest feiern und fröhlich sein. Denn mein Sohn war tot, und nun lebt er wieder; er war verloren, und nun ist er wiedergefunden.‹ Und sie begannen zu feiern.
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Diese Begegnungen von Menschen mit Jesus zeigen mir, wie Gott ist. Jesus sorgt sich nicht nur um meine Schuld, sondern bedeckt auch meine Scham. Er schämt sich nicht für mich. Er steht zu mir. Er ist mein grosser Bruder, zu dem ich vertrauensvoll aufschauen darf.
Jetzt haben alle den einen Vater: sowohl Jesus, der die Menschen in die Gemeinschaft mit Gott führt, als auch die Menschen, die durch Jesus zu Gott geführt werden. Darum schämt sich Jesus auch nicht, sie seine Brüder und Schwestern zu nennen.
Ich will nahe bei diesem Jesus bleiben. Er ist zugänglich. Er ist nahbar. Er ist würdevoll. Und er teilt seine Würde mit uns Menschen. Er ist offen. Auch für dich. Er hört dich, wenn du zu ihm sprichst. Und er wird dir antworten. Probier es aus. Gott segne Dich!