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Hubertus und der König

Josua Hunziker Josua Hunziker

Ein wahres Weihnachtsmärchen

Vor langer Zeit lebte ein Sägemeister namens Hubertus. In seiner Sägerei gab es immer viel zu tun: Gemeinsam mit seinem Sohn Phileas zersägte Hubertus tagaus, tagein mächtige Holzstämme zu Brettern in allen Grössen. Das alte Wasserrad, welches bereits sein Urgrossvater gebaut hatte, trieb dafür eine komplizierte Mechanik an, welche gleichzeitig die Säge bewegte und die Stämme durch die Säge führte. Hubertus war froh, dass der Bach neben seinem Haus immer genügend Wasser führte, so dass seine Säge noch kaum je stehen geblieben war.

Die meisten seiner Bretter wurden von Zimmerleuten gekauft. Ab und zu erstand auch ein Schreiner ein besonders schönes Exemplar, welches dann zu einem Tisch gefertigt wurde. Einmal, da war sogar ein Instrumentenbauer bei Hubertus gewesen, hatte eine besonders schöne Fichtenplanke ausgesucht und Hubertus gut dafür bezahlt! Hubertus war davon überzeugt, dass der Instrumentenbauer ein Cello daraus gefertigt hatte, während Phileas sich ziemlich sicher war, dass es für ein Cembalo oder Klavier verwendet worden war.

Das Leben des Sägemeisters war streng und eintönig. Schwere Stämme mussten gehievt, Bretter gestapelt und getrocknet, die Säge immer schön geschliffen und das Wasserrad sowie die Sägemechanik gewartet und geölt werden. Manchmal wünschte sich Hubertus, dass aus seiner Arbeit etwas Edleres würde als die nächste Scheune auf dem Feld, aber alles in allem war er dankbar, dass er immer genügend Arbeit, Essen auf dem Tisch und ein Dach über dem Kopf hatte.

Bretterstapel
Photo by Alex Jones / Unsplash

Eines Tages, an einem kalten Wintermorgen, hörte Hubertus lautes Hufgeklapper vor seiner Säge. Verwundert trat er vor die Tür - Leute, die sich Pferde leisten konnten, verirrten sich selten zu seinem einfachen Handwerksbetrieb. Als er die Ankömmlinge erblickte, staunte er nicht schlecht: Stolz gekleidete Soldaten waren es, in schimmernder Rüstung und mit glänzenden Schildern und Schwertern. Mitten unter ihnen ritt ein edel gekleideter junger Mann. Sein Anblick war anziehend und respekteinflössend zugleich - alles an ihm strahlte eine eigentümliche, natürliche Autorität aus. Der Edelmann ritt auf Hubertus zu, musterte ihn mit wachem Blick und fragte dann: "Seid Ihr Hubertus, der Säger?" "Ja, mein Herr." antwortete Hubertus und erwiderte den festen Blick. "Was kann ich für euch tun?" "Ich brauche dringend eure Hilfe.", sprach der Edle. "Ich baue unten im Hafen ein Schiff und muss es schnellstmöglich vollenden. Das Schicksal meines Königreichs hängt am Erfolg meiner Mission. Für das Schiff benötige ich 300 Planken von bester Qualität. Könnt ihr mir diese liefern?" "Nun, es kommt natürlich darauf an, wie schnell ihr diese braucht." erwiderte Hubertus respektvoll. "Bis Ende dieser Woche könnte es zu schaffen sein." "Ihr versteht mich nicht, Hubertus. Ich bin in grosser Eile. Morgen früh brauche ich die Planken. Ich werde euch auch fürstlich bezahlen. Fünf Gulden sofort, und fünf Gulden morgen. Seid ihr einverstanden?" Hubertus wollte noch erwidern, dass die Arbeit unmöglich innert nur eines Tages zu schaffen sei, doch da drückte ihm einer der Soldaten auch schon einen Beutel mit fünf glänzenden Goldstücken in die Hand. Verdutzt schluckte Hubertus seinen Einwand herunter. 5 Gulden - das war mehr, als er sonst in einem Jahr verdiente! Und morgen noch einmal fünf dazu... er musste es einfach versuchen! "Wohlan, mein Herr!", bemühte er sich gleichmütig zu sagen. "Morgen früh werden die Planken bereit sein." Ungläubig starrte Phileas seinen Vater an, getraute sich aber nicht, seinen Zweifel in Worte zu fassen. Dem König aber huschte ein Lächeln über die Lippen. "Ich danke euch, Hubertus!" Und schon stob er mit seinem Geleit davon und liess den staunenden Sägemeister mit seinem verwirrten Sohn im Morgenlicht stehen.

Noch nie hatte Hubertus so verbissen gearbeitet wie an diesem Tag. Er holte alles aus seiner Säge heraus, was es zu holen gab. Stamm um Stamm wuchtete er mit Hilfe seines Sohnes und des einfachen Krans vor das emsige Sägeblatt, welches sich langsam aber stetig durch das Holz frass. Planke um Planke stapelten sich schon nach wenigen Stunden vor der Sägerei. Beim Einbruch der Nacht hatten sie bereits 100 Planken hergestellt - ein Rekord für einen Arbeitstag, doch erst ein Drittel von der benötigten Menge. "Vater, das schaffen wir nie!" jammerte Phileas. "Worauf hast du dich nur eingelassen? Was ist, wenn der König dich ins Gefängnis wirft, falls du seinen Auftrag nicht erfüllst?" "Und ob wir das schaffen, Junge! So einen Auftrag werden wir nie wieder erhalten! Los, iss etwas, es wird eine lange Nacht!" Und so schufteten sie weiter, im Schein ihrer Öllampen. Stunde um Stunde verging. Stamm um Stamm schwand dahin.

Öllampe
Photo by Bernard Tuck / Unsplash

Plötzlich - es musste bereits gegen Mitternacht gehen - riss das stete Raspeln der Säge ab. Die eintretende Ruhe schreckte die beiden Arbeiter auf: Alles stand still - das Sägeblatt, die Übersetzungsräder, das ganze Wasserrad! Nur noch ein bedrohliches Knirschen war von unten - aus dem Getrieberaum - zu hören. "Verflixt!" entfuhr es Hubertus. "Warum gerade heute? Das darf doch nicht wahr sein!" Fluchend begab er sich in den Getrieberaum um dem Problem auf den Grund zu gehen. Das war nicht schwer - rasch sah er im schummerigen Schein seiner Öllampe, dass unter der Last des langen Tages eine Stütze abgebrochen war und sich in einem der Laufräder verklemmt hatte. Diese Stütze blockierte nun die ganze Mechanik, das Wasserrad und das Sägeblatt.

Hubertus zögerte nicht lange - hier war entschlossenes Handeln gefragt. Er stieg zwischen die Räder, und begann mit seinem Hammer, die eingeklemmte Stütze herauszuschlagen. Hammerschlag um Hammerschlag dröhnte durch die nächtliche Stille, hin und wieder unterbrochen von Hubertus' kräftigem Schnaufen. Da - die Maschinerie knarrte! Ein weiterer kräftiger Schlag - und dann ging alles blitzschnell. Die Stütze löste sich unvermittelt aus ihrer Position, die Räder begannen, sich wieder zu drehen. Doch Hubertus verlor sein Gleichgewicht und stürzte vornüber. Dabei verfing sich seine Hand in einem Keilriemen, und mitsamt dem Hammer, den er noch immer umklammert hielt, verklemmte sie sich zwischen zwei Rädern. Blockiert durch den Hammer, blieb die Maschinerie erneut ächzend stehen. "Hilfe!" rief Hubertus. "Phileas, hilf mir doch!" Schreckliche Schmerzen durchströmten Hubertus' Hand und Arm. Die Hand musste ziemlich zerquetscht sein, nur der Hammer hatte verhindert, dass sie komplett in die Räder gezogen worden war. "Vater!" Phileas stürzte hinzu. "Was soll ich tun?" "Bleib vorsichtig!" entgegnete Hubertus. "Hol Hilfe! Schnell!"

In diesem Moment trat jemand weiteres in den dämmerigen Raum. Hubertus erschrak, und als die Gestalt ins Licht trat, stockte ihm der Atem: Es war sein Auftraggeber, der König persönlich. Mit raschem Blick erfasste dieser die Lage. "Bleib hier stehen!" wies er Phileas in einem Tonfall an, der keine Widerrede duldete. Mit raschen Bewegungen begann der König, zu Hubertus zu klettern. "Bleibt zurück, mein Herr", ächzte Hubertus, "es reicht, dass ich eingeklemmt wurde." Doch schon war der Edelmann beim Verunfallten Sägemeister, zog sein Schwert und blickte Hubertus mit durchdringendem Blick an: "Ihr tut jetzt genau, was ich sage. Sonst laufen wir Gefahr, beide von eurer Maschine zerquetscht zu werden!" Hubertus nickte und wagte kein Wort mehr zu sprechen. "Ich werde jetzt die Räder auseinanderhebeln. Sobald ich 'Jetzt!' rufe, zieht ihr eure Hand nach links - ich ziehe gleichzeitig mein Schwert nach rechts. Und dann mit zwei grossen Schritten nichts wie raus. Verstanden?" "Verstanden." murmelte Hubertus.

Öllampe
Photo by Jack Stróżewski / Unsplash

"Jetzt!" rief der König, und stemmte sich mit aller Kraft gegen sein Schwert. Hubertus schwang seinen Arm nach links und nahm einen grossen Satz und brachte sich mit letzter Kraft in Sicherheit. Aus seinen Augenwinkeln sah er den König behände das Gleiche tun. Zeitgleich setzte sich das Sägewerk knirschend wieder in Bewegung. Die Mechanik war wieder frei! Erleichtert sank Hubertus auf den Boden - und plötzlich spürte er wieder den stechenden, grausamen Schmerz in seiner Hand. Schwindel erfasste Hubertus und nur schummrig nahm er noch seinen Retter neben sich wahr. "Das sieht übel aus." murmelte der König. Benommen und ungläubig beobachtete Hubertus, wie der König ein Stück seines schneeweissen Hemdes abriss und damit behutsam die verletzte Hand verband. "Nun denn, mein Meister. Sieht aus als ob ihr diese Nacht nicht mehr sägen werdet." "Der Auftrag!" schoss es Hubertus durch den Kopf. Wie sollte er diesen jetzt zu Ende bringen? Wie würde der König in seinem Zorn mit ihm verfahren? Die aufsteigende Sorge liess den Schwindel verschwinden und zitternd wartete Hubertus auf die nun folgende Demütigung. Doch zu Hubertus' Erstaunen stellte der König ihm nur eine einfache Frage: "Könnt ihr mich anleiten, Hubertus? Mich und euren Sohn?"

Es dauerte einen Moment bis Hubertus begriff, worauf der König hinauswollte. Unmöglich! Der König konnte sich doch nicht seine edlen Hände am rohen Holz ruinieren. Und wie würde er, Hubertus, denn am nächsten Tag dastehen, wenn sein Auftraggeber den Auftrag persönlich zu Ende hatte führen müssen? Andererseits - hatte er noch eine Wahl? Sein Gesicht hatte er vor dem König sowieso schon verloren. So nickte Hubertus zögerlich und hinkte dann, vom König und Phileas gestützt, wieder in die Sägestube. Er setzte sich auf den einzigen Stuhl und begann, den König in die Sägekunst einzuweisen. Phileas arbeitete zuerst nur zögerlich mit, doch als er sah, dass der König kräftig und geschickt anpackte, wollte er sich keine Blösse geben. Schon bald war die Säge wieder erfüllt vom emsigen Lärm des Sägeblattes und immer weniger war es nötig, dass Hubertus korrigierend mit Worten oder kraft seiner gesunden Hand in das Werk der beiden Arbeiter eingreifen musste.

Sonnenaufgang
Photo by Alex Gruber / Unsplash

Kurz nach Sonnenaufgang war der Hof vor der Säge erneut von Hufgeklapper erfüllt. Wieder waren es die gleichen Soldaten, die antrabten. Ihnen folgten heute jedoch mehrere Ochsenkarren, welche die Planken zum Hafen bringen sollten. Müde, dreckig und verschwitzt trat der König aus der Tür und begrüsste seine Männer: "Ihr kommt gerade recht - wir sind soeben fertig geworden. 300 Planken von bester Qualität. Verladet sie auf die Ochsenkarren, und zahlt dem Sägemeister seinen wohlverdienten Lohn!". Hubertus dachte, er höre nicht recht. Nicht nur, dass der König die halbe Nacht mit ihnen durchgearbeitet hatte - er wollte sie auch noch dafür bezahlen? Wieder trat der gleiche Soldat wie gestern vor und drückte Hubertus einen Beutel in die Hand. Dieser beobachtete stumm, wie die Männer des Königs die Planken verluden. Der König selbst hatte sich inzwischen umgekleidet und beaufsichtigte die Arbeiten mit seinem Hauptmann. Nach kurzer Zeit war das Werk vollbracht, und der Tross wandte sich, zu gehen. "Lebt wohl, Hubertus! Ich bin euch grossen Dank schuldig!", sprach der König, wandte sein Pferd um und stob davon, ohne die Antwort des verdutzten Sägemeisters abzuwarten.

Erst in diesem Moment dachte Hubertus daran, den Beutel zu öffnen und den Inhalt zu prüfen. Was er dort sah, verschlug ihm die Sprache: Nicht die ausgemachten fünf Gulden, nein, noch einmal ganze zehn Gulden lagen im Beutel. "So wartet!", rief der dem letzten Soldaten nach, der sich gerade aufmachte, "Das muss ein Missverständnis sein!" "Nein, nein, guter Herr" erwiderte dieser, "Der König hat es genau so befohlen!" "Wer ist denn dieser König eigentlich?" platzte es da aus Hubertus heraus. "Er kommt zu mir, einem einfachen Handwerker, bittet mich um meine Dienste und stellt mir grossen Lohn in Aussicht. Er rettet mich unter Einsatz seines Lebens, als ich keinen Ausweg mehr sah. Er verband meine Wunden mit seinen eigenen Kleidern und arbeitete mit uns, um seinen eigenen Auftrag zu vollenden. Und nun, zu guter Letzt, belohnt er mich überreich dafür! Was ist das für ein Mann? Kein König dieser Welt würde so etwas tun!"

Vielsagend blickte der Soldat dem alten Sägemeister in die Augen. "Du hast recht, Hubertus. Kein König dieser Welt würde so etwas tun. Kein König dieser Welt." Mit diesen Worten wandte auch er sein Pferd und stob davon. Hubertus blieb staunend zurück und die Tränen schossen ihm in die Augen. Was für einem wunderbaren, geheimnisvollen König er doch in dieser Nacht begegnet war!

Krippe
Photo by Greyson Joralemon / Unsplash


Geschrieben von Josua Hunziker für den Weihnachtsgottesdienst 2024 der Kaleo Kirche Tägerwilen. Alle Rechte vorbehalten.

Hubertus und der König
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