Das Bild von New York in unserem Wohnzimmer führt zu Diskussionen. Für mich hat es einen neue Bedeutung gewonnen.
Wir haben ein riesiges Bild hängen in unserem Wohnzimmer. Betrachterinnen und Betrachter finden sich auf dem Gehsteig der Brooklyn-Bridge in New York City wieder, mit Sicht auf die berühmten Wolkenkratzer Manhattans.
Wir haben uns immer wieder gestritten über das Bild – vor allem darüber, ob die Schatten, welche die Brücke darauf wirft, wirklich so existieren können. Die zweithäufigste Diskussion fand darüber statt, ob das Bild überhaupt in unsere Wohngemeinschaft passt: Niemand von uns war je in New York und das Motiv entsprach nicht gerade der Definition von schöpferischer Schönheit.
Natürlich ist die Brooklyn-Bridge historisch bedeutsam, wie beispielsweise in einem Geschichtspodcast erzählt wird – das habe ich auch schon in unsere Debatte miteinfliessen lassen wollen.
Doch mittlerweile hat sich mir aus einem ganz anderen Grund eine neue Sicht auf das Bild aufgetan.
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Stadt der Sehnsüchte
Ob Wirtschaft, Gesellschaft oder Politik: New York City gilt als Zentrum der westlichen Welt schlechthin. Als Menschenmagnet wirkt es ungebremst: Wer es in New York schafft, hat es wirklich geschafft. Entsprechend viele vermögende Menschen leben hier: Neuere Zahlen sprechen von 350 Tausend Millionären (Weltrekord) und 60 Milliardären. Der amerikanische Traum wird zelebriert, hier gibt es nichts, was es nicht gibt, und wenn gewünscht, sehr exklusiv: Die teuerste Wohnung befindet sich auf 400 Meter Höhe zum Preis von 250 Millionen Dollar. Gleichzeitig lebt in New York City jeder fünfte der 8 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze. Gescheiterte Existenzen, die im «Hustle» um einen Platz an der Sonne enttäuscht worden sind.
New York City ist Paradesymbol der menschlichen Sehnsucht nach Erfolg, Anerkennung, Komfort und Sicherheit und deren Erfüllung, die in allen Städten und Dörfern der Welt ihr Echo findet.
Gläubige Menschen werden mit dem Finger auf diese Städte zeigen und sie «Babylons» nennen, Städte der Sünde. In genau dieser Situation war das Volk Israel, als es in der Verbannung nach Babylon geführt wurde.
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Eine verblüffende Anweisung
Die Stadt stand für alles, was aus der Perspektive des mosaischen Gesetzes böse war. Wie sollten gottesfürchtige Menschen darin leben? Möglichkeiten bestanden scheinbar nur zwei: Entweder lassen wir uns von Babylon verschlucken, nehmen vollständig die Gewohnheiten und Lebensweisen der Stadt an, oder: Wir ziehen uns aus dem gesellschaftlichen Leben zurück, bleiben unter uns, versuchen, aus Babylon zu entfliehen. Umso verblüffender muss die Botschaft gewesen sein, die Jeremia im Namen Gottes verkündete:
Der Gott Israels, der Herrscher der Welt, sagt zu allen, die er aus Jerusalem nach Babylonien wegführen liess: »Baut euch Häuser und richtet euch darin ein! Legt euch Gärten an, denn ihr werdet noch lange genug dort bleiben, um zu essen, was darin wächst! Heiratet und zeugt Kinder! Verheiratet eure Söhne und Töchter, damit auch sie Kinder bekommen! Eure Zahl soll zunehmen und nicht abnehmen. Seid um das Wohl der Städte besorgt, in die ich euch verbannt habe, und betet für sie! Denn wenn es ihnen gut geht, dann geht es auch euch gut.«
Jeremia 29,4-7
Gott weisst die Israeliten dazu an, sich in «Babylonien» einzurichten. Sie sollen ihr Leben vor Ort gestalten und «um das Wohl der Städte besorgt» sein und für sie beten. Gleichzeitig sollen sie zunehmen, das heisst, sie sollen sich weiterhin als Volk Gottes identifizieren und sich nicht in Babylon «auflösen», sprich, sein Heil in Babylon suchen.
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Ein wahres Zuhause
In diesem Spannungsfeld leben kann nur, wer ein zweites, wahres Zuhause hat. Dazu spricht Gott ebenfalls im Anschluss an die vorherige Stelle:
Ich sage euch: Die Zeit des Babylonischen Reiches ist noch nicht abgelaufen. Es besteht noch siebzig Jahre. Erst wenn die vorüber sind, werde ich euch helfen. Dann werde ich mein Versprechen erfüllen und euch heimführen; denn mein Plan mit euch steht fest: Ich will euer Glück und nicht euer Unglück. Ich habe im Sinn, euch eine Zukunft zu schenken, wie ihr sie erhofft. Das sage ich, der HERR. Ihr werdet kommen und zu mir beten, ihr werdet rufen und ich werde euch erhören. Ihr werdet mich suchen und werdet mich finden. Denn wenn ihr mich von ganzem Herzen sucht, werde ich mich von euch finden lassen. Das sage ich, der HERR. Ich werde alles wieder zum Guten wenden und euch sammeln aus allen Völkern und Ländern, wohin ich euch versprengt habe; ich bringe euch an den Ort zurück, von dem ich euch weggeführt habe. Das sage ich, der HERR.«
Jeremia 29,10-14
Gott erinnert die Israeliten daran, dass es ein «wahres» Zuhause gibt, und sie am Ende wieder da zurückkehren werden. Symbolisch dafür steht Jerusalem. Diese «zweite» Heimatstadt befähigt dazu, an der gottesfürchtigen Kultur festhalten, macht es aber auch möglich, Bablyon in Liebe zu dienen, weil man das Heil nicht hier suchen muss.
Ein markantes Beispiel hierfür geben die Christen in Alexandria im Jahr 252, als in der Stadt eine tödliche Pest wütete. Während die meisten gesunden Menschen die Stadt verlassen hatten, blieben viele Christen in Nächstenliebe, um die zurückgelassenen Kranken zu pflegen, meist unter Lebensgefahr. Viele Menschen waren dadurch zum Glauben gekommen, der selbstlose Einsatz der Christen hat die antike Welt nachhaltig beeindruckt.
Als Nachfolger von Jesus glauben wir, dass er uns ein Haus im Himmel baut in der Stadt Gottes.
Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen. Wenn es nicht so wäre, hätte ich euch dann gesagt: Ich gehe, um einen Platz für euch vorzubereiten? Und wenn ich gegangen bin und einen Platz für euch vorbereitet habe, werde ich wiederkommen und euch zu mir holen, damit auch ihr dort seid, wo ich bin.
Johannes 14, 2-3
New York ist eine attraktive Stadt, doch ich brauche mich nicht nach ihr auszustrecken. Als Bürger des Himmels habe ich eine weit prächtigere Wohnung - viel weiter oben. Stattdessen kann ich «meinem» New York in Liebe dienen.
Betrachte ich das Bild in unserem Wohnzimmer, sehe ich, wie eine Brücke zwei Städte verbindet. In der einen Stadt lebe ich, in der anderen werde ich leben. Vielleicht befinde ich mich auf dieser Brücke, vielleicht bin ich aber auch diese Brücke.