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Rebellische Ruhe

Josua Hunziker Josua Hunziker

Wenn immer was läuft, gibt's viel zu verpassen. Aber wäre das so schlimm? Ein Aufruf zum Widerstand.

"Und, was machst du so?" oder "Was läuft bei dir?" - wie viele Smalltalk-Gespräche beginnen mit diesen oder ähnlichen Sätzen. Oder auch einfach mit "Wie geht's?" "Danke, es geht." Es geht. Es läuft. Immer läuft was. Die Welt in Bewegung und ich mittendrin. Und das fühlt sich gut an. Lebendig. Ich bin aktiv. Und das potenziell 24 Stunden am Tag - elektrisches Licht und Internet sei Dank. Unendliche Chancen.

Noch nie in der Geschichte unserer Gesellschaft hatten die Menschen so viele Möglichkeiten, ihr Leben eigenständig und unabhängig zu gestalten. Noch nie waren so viele Angebote so einfach - oft auf Knopfdruck - verfügbar. Noch nie hatten die Menschen so viel Freizeit, noch nie weite Teile der Bevölkerung die finanziellen Mittel, um Hobbies, Urlaub und vielen anderen Aktivitäten zu frönen. Würde man unsere Ur-Ur-Urgrosseltern fragen - wir leben heute im Paradies, im Himmel auf Erden.

Und doch - warum fühlt sich das für mich auch immer wieder als Korsett an? Als goldener Käfig? Überfordert von all den Möglichkeiten. Getrieben vom ständigen Zugang zu einem unendlichen Berg an Informationen und News. Eingesperrt in einer Welt wo immer und überall jemand etwas von mir will. Meine Zeit, meine Aufmerksamkeit, mein Geld. Und dazu die Angst, etwas zu verpassen. Nicht mit dabei zu sein. Die Möglichkeiten nicht auszuschöpfen.

Immer wieder kommt mir ein Kurzfilm von Loriot in den Sinn. Ich kenne diese Szene nur zu gut. Nur, dass sie sich so oder ähnlich nicht zwischen mir und meiner Frau, sondern in mir selbst abspielt. Hier mein unruhiger, getriebener Geist. Da meine Seele, die mal "einfach nur sitzen" möchte. Kennst du das?

Ich mag den Sketch. Das Sitzen von Hermann wird zum Akt des Widerstands und der Selbstbehauptung. Egal was es noch zu tun gäbe, egal wie man die Zeit noch nutzen könnte, egal was ich verpasse: "Ich sitze hier." Ich verspüre sofort Sympathie mit diesem entspannten Rebellen. Warum eigentlich? Und warum tue ich es ihm nicht einfach gleich?

Unserer technologisierten, marktgetriebenen Gesellschaft ist der Mensch, der einfach sitzt, ein Dorn im Auge. Wer einfach sitzt, den kann man nicht umwerben. Wer einfach sitzt, dem kann man nichts verkaufen. Keine subtilen Marketing-Botschaften in den Kopf setzen. Er gibt kein Geld aus, treibt die Wirtschaft nicht an, trägt auch nicht zur Wertschöpfung oder zum allgemeinen Wohlstand bei. Einfach zu sitzen ist der wohl unproduktivste und Umsatz-schädigeste Zustand, in dem sich ein Mensch befinden kann. Wenn er sich schon ausruht, dann aber bitte mit Hilfe eines Wellness-Tees, der neusten Netflix-Folge oder einer Entspannungs-App (Abogebühr nur 2 Franken). Einfach sitzen? Ein geradezu gotteslästerlicher Akt im Zeitalter des Mammons.

TIME TO REVOLT – Urban protest street art sticker
Photo by Markus Spiske / Unsplash

Ich habe vor einigen Monaten begonnen, immer mal wieder ganz bewusst einige Minuten "einfach zu sitzen". Nichts weiter als das. Ich gönne meinem Körper, meiner Seele und meinen Gedanken einen Moment der Ruhe, der Pause. Zudem verordne ich meinem unruhigen Geist eine wöchentlich dringend nötige Auszeit: Mein Smartphone bleibt von Samstagabend bis Montagmorgen ausgeschaltet. Wie gut das tut! Wir suchen als Familie und gemeinsam mit Freunden neue Wege, den Sonntag als Ruhetag zu heiligen - also von den anderen sechs Wochentagen abzusondern und bewusst anders, als Ruhetag zu gestalten. Ein Unterfangen mit Tücken - plötzlich merkt man, wie viel man am Sonntag eben auch "am Laufen hat" und wie tief die Gewohnheiten sitzen, sich täglich und fast rund um die Uhr mit irgendwas zu berieseln, abzulenken oder sich über Konsumentscheide den Kopf zu zermartern. Gelingt es uns immer, den Ruhetag ruhig zu gestalten? Bei weitem noch nicht. Machen die ersten "Erfolge" Lust auf mehr? Und wie!

Es ist erstaunlich, wie positiv sich diese kleinen und grösseren Pausen auf mein Leben im Allgemeinen und - ganz spezifisch - auf mein Gebetsleben ausgewirkt haben. Die Ruhe rückt meine Wahrnehmung zurecht, lässt Wichtiges wieder gross und Unwichtiges wieder klein erscheinen. Aus der Ruhe fällt es mir einfacher, mich für Gottes Gegenwart zu öffnen und seine Stimme wieder wahrzunehmen. Und auch mich selbst und meine Nächsten - allen voran meine Familie - nicht vor lauter Push-Meldungen und Pendenzen aus den Augen zu verlieren. Wie schnell sind meine Prioritäten in der Alltags-Hektik wieder völlig verschoben. Wie sehr hilft mir regelmässige Ruhe, diese Prioritäten wieder ins Lot zu rücken.

Einfach sitzen
Photo by Harsh Gupta / Unsplash

Ist es immer einfach, diese Ruhepausen einzulegen? Überhaupt nicht. Ein rebellischer Akt definiert sich ja gerade durch die Wahl eines Weges mit Widerständen. Und gerade dass mein unruhiger Geist sich oft gegen diese Ruhe sträubt, zeigt mir, wie nötig ich sie eigentlich habe. Zudem ist klar, dass Rebellion auf Gegenwehr trifft - renitent ruhende Rebellen machen Mammon missmutig. Ein ruhender Mensch, offen für Gottes Stimme und mit den göttlichen Prioritäten im Einklang ist ein schwieriges Ziel für Marketing-Strategen, Produktivitätssteigerungs-Ratgeber oder Dauer-Beriesler. Und die tun alles, um die Rebellen von ihrem "einfach sitzen" wieder wegzulocken.

Sollen sie schreien. Ich hör einfach weg.

In meiner Ruhe fange ich wieder an, aus der Quelle zu schöpfen von dem der sagt, dass sein Lebenswasser mich nicht durstig zurücklässt. In meiner Ruhe bekenne ich gleichsam: "Du, Gott, bist mir genug." In meiner Ruhe lerne ich neu, Gott ganz zu vertrauen.

Nicht in der Ruhe liegt die Kraft, aber in Gott, der sich so oft in der Ruhe offenbart.

Rebellische Ruhe. Läuft bei mir.


Buchtipp für weitere rebellische Ideen: "Beautiful Resistance" von Jon Tyson

Rebellische Ruhe
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