Immer wieder wird uns gesagt, dass Glaube und Wissenschaft sich feindlich gegenüber stehen. Bedeutet wissenschaftlicher Fortschritt dereinst das Ende des Glaubens? Oder haben wir Grund, entspannt zu bleiben?
Mein vierjähriger Sohn liebt Puzzles! Immer wieder setzen wir uns gemeinsam auf den Fussboden, leeren alle Teile auf den Boden und beginnen unser Werk. Jeder für sich, und trotzdem gemeinsam, drehen wir alle Teile auf die Bildseite, beginnen mit den Ecken, komplettieren Stück für Stück den Rand und arbeiten uns dann von mehreren Seiten zur Mitte vor. Puzzlen hat etwas Meditatives, es beruhigt uns beide, "erdet" unseren Fokus auf das gemeinsame Werk. Teil für Teil wird aus einem undurchsichtigen Durcheinander ein Einziges, ein Ganzes. Und dabei geht es gar nicht einmal um das Disney-Motiv, welches sich uns zum Schluss nur zu oft präsentiert. Sondern vielmehr um den äusserst befriedigenden Prozess, Stück für Stück die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Teilchen entschlüsselt zu haben.
Das englische Wort "Puzzle" steht für mehr als das klassische "Zämesetzli" - übersetzt heisst es viel allgemeiner "Rätsel" oder auch "Geduldsspiel". Ein Puzzle eröffnet sich uns nicht sofort - es zu entschlüsseln braucht Zeit, Musse und Fokus. Und es gibt Puzzles, welche Jahre und Jahrzehnte überdauern, ohne geknackt zu werden - so z.B. das Rätsel der berühmten "Kryptos"-Skulptur des amerikanischen Bildhauers James Sanborn. Seit 1990 steht diese im Garten des CIA Hauptquartiers und abertausende von Kryptografen und Rätselfanatikern haben sich an der Entschlüsselung der vierten und letzten Passage des Rätsels bisher die Zähne ausgebissen - bis dato jedoch ohne Erfolg.
Die Kryptos-Skulptur. Bild: Wikimedia
Unsere Welt als grosses Rätsel
Manchmal stelle ich mir vor, Gott habe die Welt bei ihrer Erschaffung als grosses Rätsel konzipiert. Nicht in böser Absicht, nicht um uns zu verwirren oder in einem Irrgarten von Absurditäten verkümmern zu lassen. Sondern vielmehr in der Haltung eines Künstlers wie James Sanborn - ein Künstler, welcher Rätsel schafft, Spuren legt, Hinweise platziert und dann vergnügt beobachtet, wie sich die Geheimnisse seines Puzzles langsam und schrittweise denjenigen eröffnen, die sich mit genügend Hingabe, Fokus, Passion und Verbissenheit an dessen Lösung heranwagen. Die Geheimnisse der Schöpfung eröffnen immer wieder neue, unerwartete Tiefen. Ich glaube, dass Gott verschmitzt gelächelt hat, als Einstein erkannte, dass seine Relativitätstheorie zwar gewisse Phänomene viel besser erklärte als die etablierten Modelle der zeitgenössischen Physik, dies jedoch zum Preis eines ungeheuerlichen Ausmasses an neuen Frage- und Problemstellungen. Gemeinsam mit der fast zeitgleich entwickelten Quantentheorie mussten viele Annahmen zur Natur der Dinge noch einmal grundlegend neu aufgewickelt werden - ein Prozess, der bis heute noch längst nicht abgeschlossen ist.[1]
Ich glaube, dass Gott uns mit den Geheimnissen der Natur eine Lebensperspektive geben wollte. Das Wissen, dass es Neues zu entdecken gibt, beflügelte nicht nur die Kolumbusse und Magellans der Renaissance - Naturwissenschaftler aller Couleur, Raum- und Rennfahrer, aber auch Maler und Musiker sind alle beseelt und elektrisiert vom Wissen, dass es ein "Neues" zu entdecken gibt, welches noch kein Mensch zuvor gesehen, gehört, erlebt oder verstanden hat. Wohl kaum ein Mensch kann sich dieser Perspektive des Neuen, noch Verborgenen, des Unbekannten entziehen. Des Nervenkitzels des Entdeckens und des Staunens. Und ich bin überzeugt: Gott liebt es, wenn wir uns dieser Faszination hingeben. Warum? Weil sie uns in Bewegung hält. Und weil daraus immer wieder die Erkenntnis und Anbetung seiner Grösse folgt - zumindest wenn wir seine Existenz nicht von vornherein ausschliessen.
"Moment mal", magst du jetzt denken, "ist denn die moderne Wissenschaft nicht eher ein Feind des Glaubens? Schliesslich bedeutet Glaube ja genau, dass man etwas nicht weiss, vielleicht weil man es gar nicht wissen kann. Sollten wir nicht eher vorsichtig sein, um nicht zu tief ins Glas der Naturwissenschaft zu schauen und darob vielleicht sogar unseren Glauben zu verlieren?" Nun, ich denke nicht. Vielmehr glaube ich, dass der Gegensatz "Glaube versus Wissenschaft" ein sehr modernes und ziemlich haltloses Konstrukt ist. Dass es nur zu oft in den Medien bemüht und wiederholt wird, macht es nicht wahrer.
Im Halbdunkel des Glaubens?
Kürzlich las ich in der Kommentarspalte eines News-Portals den Satz: "Lieber wandle ich im Lichte des Wissens als im Halbdunkel des Glaubens." Aha, das tönt doch super. Wer also die Welt durch die Brille eines Glaubenden betrachtet, der tappt halb blind durch die Dämmerung. Ins Licht aber kommt, wer sich auf das pure, reine Wissen verlässt, welches die Wissenschaft uns geschenkt hat.
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So schön das klingt, so sehr hinkt dieses Weltbild aber bei genauerer Betrachtung: Es ist uns Menschen schlicht und einfach nicht möglich, mit rein rationalen, wissensbasierten Augen auf diese Welt zu schauen. Wir alle haben unsere Glaubenssätze. Moderne Glaubenssätze lauten dann zum Beispiel "Die Naturwissenschaft ist die einzige glaubwürdige Quelle der Wahrheit. Sie ist umfassend genug um alles, was es über die Welt zu wissen gibt, zu erklären." Das alles sind Aussagen, die sich nicht beweisen lassen. Genauso wie sich die Existenz Gottes höchstwahrscheinlich nicht beweisen lässt. Ist das ein Problem? Ich denke nicht. Muss ich mich als Christ von solchen Glaubenssätzen einschüchtern lassen? Auf gar keinen Fall. Sie sind nicht stichhaltiger als eine Weltanschauung, welche in ihrem Grundsatz von der Existenz eines allmächtigen Schöpfergottes ausgeht.[2] Glaube und Wissenschaft sind also auch im Jahr 2021 keine Gegensätze, sondern sich gegenseitig befruchtende Partner: Die Wissenschaft ist nämlich genau auf dem Boden des Glaubens - oder, noch präziser: des Christentums - zu ihrer grössten Blüte gelangt. Der deutsche Journalist Markus Spieker schreibt dazu:
Von wegen "dunkles" Mittelalter: Die lichtdurchfluteten gotischen Kathedralen symbolisierten eine Zeit, in der die Sonne des Geistes immer höher stieg. Je klarer die Menschen die Welt um sich herum sehen und erforschen, desto mehr lernen sie auch über den dreieinigen Gott, den Schöpfer, den Erlöser, den Helfer. Der Glaube an einen Gott, der die Menschen erschaffen hat, sie erlösen will und durch seinen Heiligen Geist weiter in der Welt präsent ist, beruhigt eben nicht nur. Er dient auch als Motivationshilfe dafür, die Geheimnisse des Universums und des Menschseins noch gründlicher zu erforschen. [...] Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert erlebte Europa [dann] eine Wissenschaftsrevolution, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte. Bei fast allen Forschern und Erfindern, die an dieser Revolution mitwirkten, stand der christliche Glaube im Zentrum ihres Denkens. [...] Genau wie die Bibel war für die christlichen Wissenschaftler auch die Natur eine göttliche Offenbarung, die man studieren konnte. (Markus Spieker in Jesus. Eine Weltgeschichte)
Es ist bezeichnend, dass die christlich geprägte Kultur des "Abendlandes" der modernen Wissenschaft einen optimalen Nährboden gegeben hat. Und es spricht für einen souveränen Schöpfer, für den der Forschergeist seiner Geschöpfe keine Bedrohung darstellt.
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Der entspannte Gott
Der Gott der Bibel hat also keine Angst vor neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Ganz im Gegenteil: Ich glaube, wissenschaftliche Forschung ist einer der Wege, auf denen Gott sich den Menschen erkennbar machen möchte. Natürlich: Wer die Bibel als naturwissenschaftliches Buch liest, wird viele Bilder und Vorstellungen finden, welche uns heute primitiv und archaisch erscheinen. Doch die Bibel ist kein Physikbuch - sie ist ein Buch der Weisheit und der göttlichen Offenbarung. Die Vorhersagen der Bibel über das Innerste des Menschen, ein gutes Zusammenleben und ein erfülltes, gesundes Leben sind zeitlos und - oh Wunder - auch im 21. Jahrhundert wissenschaftlich überprüfbar.
Genau diese Haltung wiederspiegelt auch der amerikanische Soziologe Paul Sullins, Professor an der "Catholic University of America" in einem kürzlich aufgezeichneten Interview, als er sagte:
Was ich tue als gläubiger Mensch ist die Behauptungen des christlichen Glaubens als Hypothesen für meine Forschung anzunehmen. Ich nehme diese Hypothesen und versuche herauszufinden, ob diese wahr sind oder nicht, ob es Belege dafür gibt oder nicht. Dabei gehe ich zurück auf die Grundlagen der modernen Wissenschaft. Diese hatte zum Ziel zu verstehen, wie Gott die Welt gemacht und unsere Leben geordnet hat und herauszufinden, ob das, was wir denken, wahr oder falsch ist. (Rev. D. Paul Sullins im Gespräch mit M. Ruppen und P. Bruderer)
Sullins stellt sich also immer wieder die Frage: "Was sagt uns die Bibel über das Zusammenleben einer Gesellschaft oder einer Familie? Was leiten wir daraus für Standards ab? Und halten diese Standards für gesunde Leben auch einer wissenschaftlichen Überprüfung stand?" Tun sie das nicht, könnte das durchaus auch ein Hinweis darauf sein, dass wir unsere Auslegung der Bibel überprüfen sollten.
Das ist das Gegenteil eines naiven, gar blinden Glaubens. Vielmehr halte ich Weltanschauungen für gefährlich, welche ein Hinterfragen oder Überprüfen ihrer Voraussagen nicht tolerieren kann - sei es das Versprechen der grenzenlosen Selbstbestimmung der sexuellen Revolution, die Vergötterung der individuellen Freiheit oder die konsequente Auslöschung aller Unterschiede zwischen den Geschlechtern und das um jeden Preis: Wer grundlegende Glaubenssätze unserer Gesellschaft in Frage zu stellen wagt, kriegt es sehr schnell mit einem wütenden, "SAKRILEG" schreienden Mob zu tun.
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Da scheint mir der Gott der Bibel deutlich entspannter. Vielleicht schmunzelt er gerade, weil er weiss, wie viel an Entdeckungsarbeit - und Entdeckerfreude! - noch vor uns liegt. Ein Gott, der Jahrtausende überdauert, braucht sich um das wütende Aufbäumen einer Generation keine allzu grossen Sorgen zu machen. Vielmehr beobachtet er uns geduldig und entspannt auf unserer Entdeckungsreise. Und wer sich ergebnisoffen auf diese Reise macht, kann an deren Ende durchaus auf einen wartenden, vielleicht schmunzelnden Gott stossen...
Für den gläubigen Menschen steht Gott am Anfang, für den Wissenschaftler am Ende aller seiner Überlegungen (Max Planck, Mitbegründer der Quantentheorie)[3]
Aus dem Denken gibt es keinen ehrlichen Rückweg in einen naiven Glauben. Nach einem alten Satz trennt uns der erste Schluck aus dem Becher der Erkenntnis von Gott, aber auf dem Grunde des Bechers wartet Gott auf den, der ihn sucht. Wenn es so ist, dann gibt es einen Weg des Denkens, der vorwärts zu religiösen Wahrheiten führt, und nur diesen Weg zu suchen ist lohnend. Wenn es nicht so ist, wird unsere Welt auf die Religion ihre Hoffnungen vergeblich setzen. (Carl Friedrich v.Weizsäcker: Die Geschichte der Natur)
Eine unterhaltsame Perspektive auf den heutigen Stand der Wissenschaft bietet z.B. das Buch "We Have No Idea" von Jorge Cham und Daniel Whiteson, welches sich zur Abwechslung darauf konzentriert, welche Mechanismen der Natur wir noch nicht verstehen. Es sei hier nur so viel verraten: Es ist eine ganze Menge! ↩︎
Dieses Argument hat der einflussreiche Philosoph Thomas Nagel in seinem Buch Geist und Kosmos sehr überzeugend herausgearbeitet. Nagel bezeichnet sich selbst als nicht religiös. ↩︎
Tatsächlich hat Planck dieses ihm oft zugeschriebene Zitat etwas umständlicher formuliert: "Wenn also beide, Religion und Naturwissenschaft, zu ihrer Betätigung des Glaubens an Gott bedürfen, so steht Gott für die eine am Anfang, für die andere am Ende allen Denkens. Der einen bedeutet er das Fundament, der andern die Krone des Aufbaues jeglicher weltanschaulicher Betrachtung." (Planck in Wege zur physikalischen Erkenntnis). Die populärere, komprimierte Form bringt den Gedanken aber besser auf den Punkt. ↩︎