Wie halten wir unseren Nomadengeist wach? Wie schaffen wir es in unserem angestammten Umfeld bloss, uns aufzumachen — die Flügel zu öffnen und loszufliegen?
Wenn du diese Zeilen liest, wird Joseph Robinette Biden Jr durch Beharrlichkeit (immerhin ist er 79!) bereits sein Rendez-vous mit dem Schicksal gehabt haben und zum mächtigsten Mann des Planeten aufgestiegen sein, gemeinsam mit seiner Vizepräsidentin Kamala Devi Harris, die erste afro-asiatische Amerikanerin (= Frau!), welche diesen Posten besetzen darf. Und @realDonald Trump? Gelöscht und Geschichte (Maralago! So schnell also kann’s gehen!) — oder πάντα ῥεῖ, wie die alten Griechen sagen: Alles fliesst.
Wir erinnern uns: Obwohl Kanaan das Ziel war, schaffte es Terach mit seinen Söhnen Abram und Nahor, ihren Frauen und der ganzen Sippe im elften Kapitel der Bibel gerade mal eine Verszeile weit nach Haran, wo sie sich niederliessen und — gemäss Josua, 24,2 — «anderen Göttern dienten». Wäre Abram dortgeblieben, wäre die Bibel auf diese dünnen elf Kapitel verkümmert (und natürlich gäbe es auch diesen Blog nicht, und dieser Artikel wäre nie erschienen, und so müsstest du ihn auch nicht lesen, sondern würdest dich mit weit weniger gescheiten Dingen herumschlagen müssen) …
Rendez-vous mit dem Schicksal
Was wie der Titel eines Groschenromans tönt, ist natürlich — wie in Teil 1 beschrieben — die Essenz des Unterwegsseins. Es konnte Gott nicht gefallen, dass Sein ganzer Heilsplan nur dadurch zunichte gemacht wurde, weil es sich Abram mit seiner Familie in Haran gemütlich eingerichtet hatte — und sich wahrscheinlich selbst wunderte, wie kurz sich doch der Trip nach «Kanaan» angefühlt hatte. Da musste also mit einem gehörigen heiligen Kick in den Hintern nachgeholfen werden, und so starb Terach in Haran (immerhin im zarten Alter von 205). Nun war plötzlich Abram das Oberhaupt der Sippe, und Gott konnte auf Augenhöhe mit ihm Tacheles reden und das Navi neu justieren.
Nomadentum vs. Sesshaftigkeit
Genau hier liegt die Crux: Praktisch durch alle 66 Bücher der Bibel ist Gottes Volk stets auf Wanderschaft und lebt aus dem Koffer. Nomadentum ist, wie bereits erwähnt, in der DNA eines jeden Nachfolgers Christi (und selbstredend auch einer jeden Nachfolgerin) — nicht umsonst nennt David im berühmten 23. Psalm den Messias den Guten Hirten, der die Absicht hat, für Sein Volk die besten Weiden zu finden.
Doch nach und nach im Laufe der Geschichte, spätestens nach Konstantin, der das Christentum von einer Partisanenbewegung zur legalen Religion erhob, und durch die Zunahme zivilisatorischer Errungenschaften, wurde auch in der Bewegung, die sich in der Apostelgeschichte noch Die vom Weg nannte, die Sesshaftigkeit zur allgemeinen Lebensform. Was nun?
Sublimieren?
Wir erleben alle mehr als genug, dass der Geist von Haran eine lähmende Wirkung zeitigen kann — die Tretmühlen des Alltags sind Legion. Wie nur erhalten wir unseren Nomadengeist wach, unsere Nomaden-DNA frisch? (Und damit meine ich nicht den neusten Hype der Digital Nomads, die als kleine globale Elite irgendwo an einem Palmenstrand in der Hängematte sich fläzend mit einer Hand auf der Tastatur ihres Laptops irgendwelche Börsenindices und mit der anderen einen Daiquiri reinziehen, solange das Resort sie mit Gratis-WLAN versorgt.)
Die Psychologie gäbe uns die Möglichkeit des Sublimierens — das Ganze auf eine höhere «Veredelungsstufe» zu hieven: In meinem Herzen, in meinem Geist ein «Wanderer» zu sein — mit ein wenig Phantasie und einem Reisekatalog ohne Weiteres machbar! Doch katapultiert uns dies noch längst nicht aus unserer ComfortZone… Wie schaffen wir es in unserem angestammten Umfeld bloss, uns im doppelten Sinn des Wortes «aufzumachen» — die Flügel zu öffnen und loszufliegen?
Quo vadis?
Der obige Titel bezieht sich auf die Frage, die Petrus Jesus stellte, als dieser nach Jerusalem unterwegs war, um Sein Rendez-vous mit dem Schicksal zu vollziehen (Joh. 13,36). (Dem polnischen Schriftsteller Henryk Sienkiewicz diente diese Szene als Grundlage für seinen berühmten gleichnamigen Roman, der später auch erfolgreich verfilmt wurde. Sienkiewicz erhielt u.a. wegen «Quo vadis?» den Literaturnobelpreis. Wie fahrlässig, die Bibel als Inspirationsquelle links liegen zu lassen!)
Ich denke, dass wir dem Urheber des Heilplans selbst immer wieder die Frage stellen müssen, wohin die Reise gehen soll. Falls Er uns noch im Standby-Modus haben will, wird Er uns dieselbe Antwort geben, die Petrus von Ihm zu hören bekam: «Wo ich hingehe, kannst du mir jetzt nicht folgen; aber du wirst mir später folgen.» Ok, so far!
Sollte aber Seine Cloud des Tags und die Feuersäule des Nachts uns auffordern, unsere Komfortzone in Haran zu verlassen und uns aufzumachen, wünsche ich uns allen, dass unser schlummerndes Nomaden-Gen aktiv wird und wir Ihm folgen, wo Er uns führen will. Es könnte ja durchaus sein, dass dort saftige Weiden auf uns warten!
Der bekannte französische Schriftsteller André Gide hat folgenden Satz geprägt, der aus der Seefahrt stammt und den Entdeckergeist anspricht:
On ne peut découvrir de nouvelles terres sans consentir à perdre de vue le rivage […]
Wer keinen Mut hat, die vertrauten Küsten aus den Augen zu verlieren,
entdeckt keine neuen Ozeane.
Gib die Zielkoordinaten ein!
Wende deinen Blick — nach vorn!
Und behalte den Horizont im Auge!