Brauchen wir eine “Theologie des Körpers”? Beschäftigt sich der christliche Glaube nicht primär mit geistlichen, also nicht-materiellen Dingen? “Nein”, sagt die amerikanische Journalistin und Weltsicht-Dozentin Nancy Pearcey entschieden. Ihr Buch “Liebe deinen Körper” nimmt den Leser mit auf eine mitreissende Reise in die erstaunlich positive biblische Sicht der Körperlichkeit.
Und auf den ersten Blick scheint unsere Gesellschaft von Körperlichkeit geradezu besessen zu sein: Unablässig werfen wir uns für Selfies in Pose, die plastische Chirurgie boomt selbst unter Teenagern und die sexuelle Orientierung wird mancherorts zu dem definierenden Kriterium unserer Identität hochstilisiert. Die traditionellen Haltungen der Kirche zu Themen wie Sexualethik, “Ehe für alle” oder Abtreibung scheinen antiquiert, engstirnig und vor allem: Körperfeindlich.
Genau hier setzt Pearcey an: Sie wagt einen Blick hinter die Argumentationskulissen und setzt die oft wiederholten Klischees einer messerscharfen Analyse aus. Was dabei zum Vorschein kommt ist immer wieder erstaunlich, regelmässig entlarvend und nicht selten regelrecht schockierend. Vor allem aber eröffnete sich mir persönlich ein neuer Blick auf das menschliche Leben in einer Ganzheitlichkeit, welche mir bislang nicht bekannt war: Das biblische Christentum dreht sich nicht nur um mein Seelenheil, sondern bejaht meine Körperlichkeit in radikaler Art und Weise.
Leib und Seele
Wir leben in einer Kultur, welche eine klare Unterscheidung zwischen dem “inneren Selbst” — nennen wir es einmal die Seele — und dem “materiellen Selbst” — dem Körper — macht. Dies stellt uns vor die Frage: Wo ist denn das Zentrum meiner Identität, der Kern meiner selbst? Bin ich meine Seele und habe einen Körper? Oder bin ich mein Körper und habe eine Seele? Für Pearcey ist die Antwort eindeutig: Im westlichen Kulturkreis des 21. Jahrhunderts wird der Kern der Identität eindeutig in der Seele verortet. In meinem Inneren entspringt meine Persönlichkeit — das, was mich zum Menschen macht. Meine Identität, wer ich wirklich bin, kann ich nur tief in meinem seelischen Inneren erahnen und entdecken. Mein Körper gehört zwar zu mir, ist aber hauptsächlich die materielle Hülle meiner Selbst, quasi die “Wohnung” meines wahren Ichs. Er ist die Verbindung meines Ichs zur “Welt da draussen”. Klingt irgendwie vertraut, oder?
Aus dieser Herangehensweise wird schnell klar, warum die traditionellen moralischen Haltungen der Kirche zu “Körper-Themen” heute so stark unter Beschuss stehen:
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“Überholte” Sexualethik: Was hat eine Kirche sich überhaupt ins Sexleben der Menschen einzumischen? Sie soll sich um das Seelenheil der Menschen kümmern. Da Sex aber primär mit meinem Körper und wenig mit meiner Seele oder Spiritualität zu tun hat, soll sich die Kirche gefälligst aus meinem Sexleben raushalten. So lange im sexuellen Kontext keiner Person seelischen Schaden zugefügt wird (z.B. durch Missbrauch) ist es doch wohl jedem Menschen erlaubt, sich diesem körperlichem Genuss so hinzugeben mit wem und wie er das gerne möchte? Schliesslich erbaut und stärkt es mein inneres Ich, wenn ich meine Sexualität so ausleben kann, wie ich das fühle.
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“Rückständige” Ansicht zur modernen Sterbehilfe und Euthanasie: Was ist noch menschlich an einem “biologischen Körper” ohne Anzeichen einer lebendigen inneren Persönlichkeit (z.B. im Koma oder im hohen Alter)? Warum sollte ein solches Leben nicht beendet werden dürfen? Es handelt sich ja eigentlich nur noch um die Körperhülle; um biologisches Material ohne Persönlichkeit. Es ist weder wirtschaftlich noch sinnvoll, Körper am Leben zu erhalten, welche jeglicher Persönlichkeitsmerkmale entbehren.
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“Patriarchalisch getriebene” Ablehnung der Abtreibung: Geht es nicht in Ordnung, das “biologische Leben” eines Embryos zu beenden, so lange noch kein Nachweis einer innewohnenden Persönlichkeit erbracht werden kann? Auch dieser wäre ja nur als materieller Körper ohne Persönlichkeit und Menschlichkeit zu betrachten. Zumal die Abtreibung einer wirklichen Person, nämlich der Mutter, ja ganz bestimmt helfen kann — insbesondere, wenn sie durch das einmal geborene Kind unfreiwillig zu einer massiven Einschränkung ihrer Lebensführung gezwungen wäre.
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“Verkrampftes” Verhältnis zum Transgenderismus: Es gibt Menschen, deren inneres, empfundenes Geschlecht nicht mit ihren körperlichen Geschlechtsmerkmalen übereinstimmt. Ist es dann nicht absolut ok, wenn sie darauf bestehen, als Angehörige ihres empfundenen Geschlechts behandelt zu werden? Und warum sollten sie ihren Körper als Ausdruck ihrer wahren Identität nicht entsprechend anpassen lassen? Schliesslich dient der Körper in erster Linie dazu, dem wahren, inneren Ich zum vollen Ausdruck und Erleben der “Welt da draussen” zu verhelfen?
Pearcey argumentiert überzeugend, dass all diese Aussagen ein gemeinsames Problem haben: Ihnen allen liegt eine dualistische Sichtweise der menschlichen Identität zugrunde: Ein Teil des Menschen (die Seele) wird also als wichtiger, als “höher” erachtet als der andere Teil (der Körper). Diese Sicht des Menschen ist jedoch, so Pearcey, mit dem biblischen Welt- und Menschenbild unvereinbar — ein Menschenbild, welches die Einheit von Leib und Seele betont. Die Bibel sieht den Menschen als Ganzes, beide Teile als gleichwertig, gleich heilig (im Sinne von “unantastbar”) und mit innewohnender Würde ausgestattet. Der physische Körper ist damit genauso identitätsbestimmend wie meine Seele. Pearcey ist also überzeugt: Wir können nicht gleichzeitig an die Autorität der Bibel glauben und obigen Statements (auch nur teilweise) zustimmen. Oder umgekehrt: Wer auch nur eine der obigen Aussagen vertritt, verneint bewusst oder unbewusst die biblische Sicht des Menschen.
Die Bibel als körperfeindliches Buch? Nicht bei Pearcey! Bei ihrer Analyse der grundlegenden moralischen Ansichten unserer Zeit (und deren Konsequenzen auf das Leben der Menschen) wird immer wieder Pearceys Faszination und Wertschätzung für die ganzheitliche Menschlichkeit spür- und greifbar. Gott, der Schöpfer, hat jedem Menschen einen wertvollen Körper und eine kostbare Seele geschenkt! Gleichzeitig wird dem Leser bei der Lektüre von “Liebe deinen Körper” die tiefe Körperfeindlichkeit obiger Statements dicht und packend vor Augen geführt: So wird z.B. im Transgenderismus aufgrund einer seelischen Vorentscheidung dem Körper eine massive Veränderung aufgezwungen — mit oft irreversiblen Folgen und Schäden. Ganz zu schweigen vom irreparablen Schaden, welcher einem scheinbar persönlichkeitslosen Embryo mit einer Abtreibung zugefügt wird. Diese abwertende Haltung zur Körperlichkeit ist für das biblische Weltbild undenkbar.
Der Körper: Biologische Tatsache ohne moralische Relevanz?
Die ganze Argumentation von “Liebe deinen Körper” baut auf einer eigentlich ziemlich einfachen Feststellung auf: Der Feststellung, dass der öffentliche Diskurs — egal zu welchem Thema — fast immer in zwei Kategorien stattfindet:
- Werte: Privat, subjektiv, relativ
- Tatsachen: Öffentlich, objektiv, absolut
Aussagen zu Werten sind für den modernen Menschen prinzipiell nicht vergleichbar mit Aussagen zu Tatsachen — als würden Äpfel mit Birnen verglichen. Im Bereich der Werte glauben wir, dass durchaus verschiedene — auch widersprüchliche — Meinungen gleichzeitig “wahr” sein können. Für eine Person kann es z.B. richtig sein, zu heiraten — für eine andere Person kann es gleichzeitig richtig sein, nicht zu heiraten. Im Bereich der wissenschaftlichen Tatsachen denken wir jedoch, dass es eine allgemeine, für alle Menschen gültige Wahrheit gibt. So gilt zum Beispiel die Schwerkraft für alle Menschen gleich, egal was sie darüber denken.
Moralische und ethische Themen werden in unserer Gesellschaft dem Bereich der Werte zugeordnet. Deshalb sind diese Themen strikt als Privatsache zu behandeln: Sie sind subjektiv und relativ. Es gibt in unserem westlichen Denken keine Instanz, welche für alle Menschen bindend moralische Standards festlegen könnte — sie sind immer Verhandlungssache einer Gesellschaft. Was in meinem persönlichen Werte-Bereich passiert, geht also niemanden etwas an, auch die Kirche nicht — zumindest so lange ich mit dem Ausleben meiner Werte niemandem einen Schaden zufüge.
Diese Spaltung zwischen Werten und Tatsachen, welche zuerst vom Theologen Francis Schaeffer formuliert wurde, durchdringt laut Pearcey das gesamte westliche Denken und insbesondere den moralischen Diskurs in unseren Breitengraden. (In ihrem etwas älteren Buch “Total Truth” geht Pearcey sehr ausführlich auf die Folgen dieses Dualismus auf die verschiedensten Lebensbereiche ein.)
In “Liebe deinen Körper” zeigt Pearcey, dass diese beiden Kategorien die Grundlagen der westlichen “Personschafts-Theorie” (engl. personhood theory) bilden. Diese Personschafts-Theorie kann analog zu obigem “Werte/Tatsachen” Dualismus wie folgt formuliert werden:
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Person: Ethisches/moralisches Konzept, definiert durch unser Wertesystem. Meine Seele und somit Kern des “Ichs”.
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Körper: Biologische Tatsache, ohne moralische Bedeutung. Bindeglied der Seele zu der “Welt da draussen”. Der Körper ist nicht “Ich” — er gehört lediglich zu mir.
Wie bereits erwähnt, steht dieses Menschenbild laut Pearcey jedoch in scharfem Kontrast zum biblischen Weltbild:
Ausgangspunkt ist eine biblische Naturphilosophie. Die Bibel verkündet den tiefen Wert und die Würde des materiellen Bereichs — einschliesslich des menschlichen Körpers — als das Werk eines liebenden Gottes. Deshalb legt die biblische Moral grossen Wert auf die Tatsache der menschlichen Körperlichkeit. Die Achtung vor der Person ist untrennbar mit der Achtung vor dem Körper verbunden. Schliesslich hätte Gott sich dafür entscheiden können, uns wie die Engel zu machen, als Geister ohne Körper. Es stand ihm frei, ein spirituelles Reich zu erschaffen, in dem wir umherschweben. Stattdessen schuf er uns mit materiellen Körpern, die in einem materiellen Universum leben. Warum? Offensichtlich schätzt Gott die materielle Dimension und er möchte, dass auch wir sie wertschätzen. […] Der Philosoph Donn Welton fasst zusammen, dass der Körper in der Bibel “nicht nur ein materieller Gegenstand oder eine biophysikalische Instanz ist, denn er gehört zum moralischen und spirituellen Universum ebenso wie zur physischen Welt.” Das heisst, die Bibel verbannt den Körper nicht in eine untere Etage, wo er nichts weiter ist als eine biochemische Maschine. Vielmehr ist der Körper ein wesentlicher Bestandteil der Person und wird deshalb schliesslich mit dem Menschen erlöst werden. Ein Prozess, der bereits in diesem Leben beginnt. Welton schreibt: “Letztendlich argumentiert das Neue Testament nicht für eine Ablehnung des Körpers, sondern für seine Erlösung und seine Umwandlung in einen Schauplatz moralischer und geistlicher Offenbarung.” Eine biblische Ethik ist inkarnatorisch. Wir sind nach Gottes Ebenbild geschaffen, um Gottes Charakter zu wiederspiegeln, sowohl in unserem Geist, als auch in unserem körperlichen Handeln. Es gibt keine Spaltung, keine Entfremdung. Wir sind leibliche Wesen.
(Liebe deinen Körper, Seiten 48–50)
Eine hohe Sicht des Körpers?
“Nun gut”, könnte man nun meinen, “ist ja super, dass die Bibel so ein hohes Körperbild hat. Aber sind nicht das heutige Nahrungs- und Fitness-Bewusstsein oder die erst kürzlich erkämpfte sexuelle Selbstbestimmung Zeichen dafür, dass wir die niedere Sicht des Körpers von vergangenen Jahrhunderten endlich hinter uns haben?”
“Nicht wirklich”, entgegnet uns Pearcey, “ganz im Gegenteil”:
Vom Körper besessen zu sein, bedeutet nicht, dass wir ihn annehmen. “Der Kult des jungen Körpers, die Verehrung des retuschierten, von den Medien produzierten Körpers verbirgt einen Hass auf echte Körper”, schreibt die Theologin Beth Felker Jones vom Weaton College. “Die kulturelle Praxis drückt Abneigung gegen Körper aus.” Auch der Körperkult kann Ausdruck des zweigeschossigen Dualismus sein. Eine Obsession mit Training, Bodybuilding und Diäten offenbart eine Denkweise, ähnlich der eines Autobesitzers, der einen Luxuswagen poliert und aufmotzt. Philosophen nennen das “Instrumentalisierung” des Körpers. Er wird als Werkzeug behandelt, das benutzt und kontrolliert wird, statt um seiner selbst willen geschätzt zu werden. Damit machen wir den Körper zum Objekt, zu einem zu erobernden Teil der Natur. Die feministische Philosophin Susan Bordo schreibt:
“Das Training, die Straffung, das Abnehmen und die Modellierung des Körpers […] fördern eine feindliche Beziehung zu ihm.”
Diese Praktiken drücken den Willen aus, den Körper zu erobern und zu unterwerfen um letztlich von seinen Zwängen befreit zu werden. Der radikale Ethiker Joseph Fletcher erklärte: “Ein Mensch zu sein […] bedeutet, frei von Physiologie zu sein.” Die Natur wird als eine negative Einengung gesehen, die es zu überwinden gilt.(Liebe deinen Körper, Seite 46)
Tatsächlich diagnostiziert Pearcey in unserer Kultur eine Abwertung und bisweilen eine regelrechte Feindschaft zur Körperlichkeit. Die eingangs genannten Vorwürfe gegen die “rückständige” christliche Moral gründen in der Auffassung, dass der Körper lediglich ein Instrument meiner selbst ist, ohne dabei ein wahrhafter Teil von mir zu sein. “Körperfeindlich!” sagt Peracey.
Denn bringt ein “befreiter” (also instrumentalisierter) Umgang mit unseren Körpern wirklich die ersehnte Freiheit, den Weg zum individuellen Glück und damit zu einer prosperierenden Gesellschaft? Pearcey verneint und zeigt auf, warum Ihrer Ansicht nach ein im biblischen Menschenbild begründeter Umgang mit unserem Körper ein ungleich grösseres Potenzial zu einem Leben in Fülle mit sich bringt.
Liebe deinen Körper
In den Kapiteln 2–6 von “Liebe deinen Körper” geht Pearcey im Detail auf die oben erwähnten Themenbereiche ein, spannt darin aber regelmässig Bogen zum “grossen Ganzen”, zum biblischen Menschenbild. Dabei schafft sie es immer wieder auf inspirierende Art und Weise, Freude und Ehrfurcht über das Wunder des Lebens und die Schönheit der menschlichen Existenz auszudrücken und eine “Better Story”, ein überaus positives und einladendes Bild der Körperlichkeit im biblischen Sinne zu zeichnen.
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Unter dem Titel Die Freude am Tod beleuchtet das 2. Kapitel die Frage der Abtreibung und arbeitet darin das im ersten Kapitel erarbeitete Grundverständnis der personhood theory weiter aus. Pearcey zeigt auf, dass biologisch gesehen ungeborene Babys vom Moment der Zeugung an ganz klar als Mensch eingeordnet werden müssen. Jegliche Befürwortung von Abtreibung kann nur durch einen Person/Körper-Dualismus und ein instrumentalisiertes Verständnis der Sexualität gerechtfertigt werden. (Weite Teile des Daniel Option Artikels Leidenschaftlich für den Schutz des Lebens sind von diesem Kapitel inspiriert.)
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In Kapitel 3 mit dem Titel Sehr geehrter Wähler, du bist nicht mehr als Person qualifiziert leitet Pearcey dann über zum Thema der Sterbehilfe und Euthanasie. Wenn ein Kind im Mutterleib als Nicht-Person gelten kann, warum dann nicht auch Menschen, die bereits auf der Welt sind? Ob “Nachgeburtliche Abtreibungen” oder Sterbehilfe für alte Menschen — Pearcey zeigt überzeugend, dass all diese Ideen an der biblisch begründeten Unantastbarkeit des Lebens scheitern und die Möglichkeit eines “einfachen Todes” letztlich eine zutiefst lebensverachtende Botschaft aussendet: “Sobald dir dein Leben keine Freude mehr bereitet, oder es nicht mehr nützlich für die Gesellschaft ist, ist es wertlos und sollte beendet werden.” Welch ein Kontrast zur biblischen Botschaft des intrinsischen, tiefen Wertes jedes menschlichen Lebens: Hier prallt die moderne Körperfeindlichkeit voll auf die biblische Körperfreundlichkeit!
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Mit Schizoider Sex fügt Pearcey ein nächstes Kapitel über die gängige Sexualethik hinzu. Diese sieht Sex in erster Linie als körperlichen Zugang zu Genuss und Mittel zur Erfüllung eines Kinderwunsches. Pearcey zeigt, wie diese Ethik in der Tiefe in einer instrumentalisierten Sicht des Körpers gründen und damit die Basis für ein unpersönliches, von emotionaler Beziehung losgekoppeltes Sexualleben legt. Auch hier stellt sie dem die biblische Sexualethik entgegen, welche beide Partner als ganze Persönlichkeiten würdigt und heiligt. (Mehr dazu auch im Daniel Option Artikel Revolutionäre Sexualität
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Es folgt Kapitel 5 unter dem Titel Politik gegen den Körper. Hier befasst sich Pearcey mit der Homosexualität und den sich darum rankenden Narrativen — insbesondere der Betrachtungsweise, dass Homosexualität eine Frage der Identität sei — man ist also homosexuell, oder man ist es nicht. Doch gründet auch diese Betrachtung in einer höheren Gewichtung des seelischen Empfindens im Konflikt mit der Körperlichkeit — biologisch ist offensichtlich, dass Mann und Frau komplementär und ergänzend geschaffen sind. Homosexualität entpuppt sich auf dem Hintergrund des modernen Dualismus als körperfeindlich. Die Story der homosexuellen Identität geht nur auf, wenn ich meine Identität in meinem seelischen Empfinden verorte und mein Körper darin keine Rolle spielt. Auch hier entwirft Pearcey eine biblisch begründete Alternative, welche dem Körper in der Identitätsbildung ein höheres Gewicht zumisst. Das innere Empfinden — sei dies sexueller oder sonstiger Natur — ist tendenziell stärker von der Sünde beeinträchtigt als der Körper. Darum müsste unser Körper — nicht allein unsere Seele — der Orientierungspunkt sein, wie wir unsere Sexualität leben. Pearcey ruft Christen und Kirchen dazu auf, mit Mut und Offenheit Menschen jeglichen sexuellen Empfindens die heilende Gnade Gottes zugänglich zu machen.
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Mit der Überschrift Transgender, Transrealität wendet sich Pearcey schliesslich dem letzten Themenkreis zu und knüpft in ihrer Argumentation unmittelbar an das 5. Kapitel an. Sie beleuchtet die Transgender-Ideologie und führt auch diese — wen wundert’s? — auf den Person/Körper-Split zurück. Auch sehen wir die Instrumentalisierung des Körpers: Der Körper wird gezwungen, sich der Seele, der innerlich empfundenen Identität anzupassen. Pearcey zeigt mit eindringlichen Beispielen, wie gerade Teenager in fluiden Phasen ihrer Identitätsfindung durch den Imperativ “Du musst deine Identität selber wählen” überfordert sind. Die Transgender-Ideologie tut ihnen mit den endlosen Möglichkeiten keinen Gefallen. Doch auch hier betont Pearcey die Alternative: Wenn Gott mich mit dem Körper eines bestimmten Geschlechts geschaffen hat, darf ich das als Teil seiner Berufung für mein Leben annehmen und mich damit auf einen Weg begeben. Ich darf herausfinden, was es heisst, dass Er mich als Mann oder Frau geschaffen hat. So darf ich mich, wie ich mich auch mit all meinen anderen, teilweise seinen Massstäben diametral entgegengesetzten Empfindungen, auf dem Weg des Heils begeben.
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Den Abschluss bildet das wichtige 7. Kapitel: Die Göttin der Wahl ist tot. Pearcey fasst ihre Analyse noch einmal zusammen. Den Abschluss des Buches bildet ein Aufruf an uns alle — Christen und christliche Kirchen — in all diesen Fragen nicht moralistisch, sondern voller Gnade zu agieren:
Der Hauptgrund für das Ansprechen moralischer Fragen ist, dass sie zu einem Hindernis geworden sind, die Botschaft der Erlösung überhaupt zu hören. Die Menschen werden mit Rhetorik überflutet, die ihnen sagt, dass die Bibel hasserfült und verletzend, eng und negativ sei. Es ist zwar entscheidend wichtig, die biblische Lehre von Sünde zu verstehen, doch der Kontext muss eine insgesamt positive Botschaft sein: Nur das Christentum bietet die Grundlage für ein Verständnis, das dem Körper einen hohen Wert beimisst und ihn als ein gutes Geschenk Gottes ansieht. Wenn Menschen mit moralischen Problemem zu kämpfen haben, müssen wir eine lebensspendende, lebensbestätigende Botschaft vermitteln. Wir sollten daran arbeiten, die Menschen von der Schönheit der biblischen Vision des Lebens zu überzeugen. […] Christen müssen bereit sein, den Verwundeten der säkularen Moralrevolution, ihren Flüchtlingen, zu dienen. Denen, deren Leben durch falsche Versprechungen von Freiheit und Selbstbestimmung zerstört wurde. (Liebe deinen Körper, Seiten 406 und 412)
Fazit
“Liebe deinen Körper” ist ein starkes Buch! Parcey schafft es, die grossen Körperlichkeits-Themen unserer Gesellschaft in einen überzeugenden Gesamtkontext zu bringen und in diesem Kontext ein positives, menschenfreundliches Bild der biblischen Körperlichkeit herauszuarbeiten. Trotz der vielen Referenzen auf wissenschaftliche Studien, Medienberichte, Romane und Filme bleibt der Stil immer flüssig und mitreissend — der etwas hölzern ins Deutsche übertragene Titel bildet hier zum Glück eine Ausnahme. Treffend eingesetzte Einzelbeispiele sorgen dafür, dass die Ausführungen nie in den luftleeren Raum der Theorie abgleiten. Das Buch, gleichzeitig von hoher theologischer Relevanz und starkem Praxisbezug, empfehle ich vorbehaltlos jedem Christen, der sich von den “heissen” moralischen Fragen unserer Tage verunsichert fühlt oder frischen Wind in das eigene, von biblischer Positivität durchwobenen Menschenbild erhalten möchte.