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Grenzenlose Selbstbestimmung?

Josua Hunziker Josua Hunziker

Die Abtreibungsfrage hängt eng mit der Forderung nach sexueller Selbstbestimmung zusammen. Doch hat nicht jede Freiheit auch ihre notwendigen Grenzen?

Die siebte Ausgabe des «Marsch fürs Läbe» und die begleitende Berichterstattung der «Neue Zürcher Zeitung» haben mich dazu bewogen, meinen Standpunkt zur Abtreibungsfrage darzulegen. Während der erste Artikel sich mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob Abtreibung denn wirklich mit der Tötung von menschlichem Leben gleichzusetzen ist (was von den Befürwortern oft verneint wird), möchte ich heute darauf aufbauend weitere Argumente beleuchten, welche im Allgemeinen für die Legalität von Abtreibungen vorgebracht werden. Im Zentrum steht in erster Linie die Frage nach der sexuellen Selbstbestimmung. Als Grundlage dient mir erneut das Interview der NZZ mit zwei Kaderärztinnen des Universitätsspitals Zürich.

"Die Gründe für die Abtreibung sind vielfältig und gewichtig."

Im Interview mit der NZZ geben die beiden Kaderärztinnen zu bedenken, dass Frauen sehr wohl triftige Gründe für den Abtreibungsentscheid hätten:

"Von Abtreibungsgegnern wird häufig zu Unrecht das Bild einer selbstsüchtigen Frau gezeichnet. Tatsächlich sind viele der Frauen, die Abbrüche durchführen lassen, bereits Mütter. Sie tragen Verantwortung für ihre Kinder und müssen sich fragen, wie sie dieser gerecht werden können. Überdurchschnittlich häufig betroffen sind auch junge Frauen in ökonomisch herausfordernden Situationen."

Tatsächlich deckt sich diese Aussage mit der offiziellen Statistik des Schwangerschaftsabbruchs 2014 des Bundes, wo im letzten Abschnitt genauer auf die Beweggründe zur Abtreibung eingegangen wird:

Bei einem Drittel der Interventionen ist das Motiv für die Intervention bekannt. 93% der Interventionen erfolgen wegen psychosozialen Gründen. Dabei geben die Frauen in den meisten Fällen an, die finanzielle Situation ermögliche es ihnen nicht, das Kind zu behalten, bereits genug Kinder zu haben, sich nicht imstande zu fühlen, ein Kind aufzuziehen, ein Kind zu haben sei mit der Erwerbstätigkeit oder der Ausbildung nicht vereinbar oder die Familienplanung sei für den Partner kein oder noch kein Thema.

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Photo by Lunar Caustic / Flickr

Wenn der Embryo in der 11. Schwangerschaftswoche erwiesenermassen eine belanglose Ansammlung von Zellen darstellen würde, so könnte ich diese Argumente absolut nachvollziehen. Doch angesichts der wissenschaftlichen Hinweise, dass das Leben unmittelbar mit der Zeugung und nicht erst irgendwann nach einigen Schwangerschaftswochen beginnt, erscheinen die vorgebrachten Argumente zynisch: "Ein Kind kann ich mir nicht leisten", "Familienplanung ist kein Thema", "Ich bin noch in der Ausbildung", "Wir haben bereits genügend Kinder". Kurz und gut: "Das Kind in meinem Bauch passt nicht in meinen Lebensentwurf" oder "Ich fühle mich mit einem Kind überfordert". In jedem anderen Fall, wo dies als Begründung für die Beendigung eines menschlichen Lebens vorgebracht würden, ginge ein Aufschrei durch unsere Reihen und wir empörten uns ob solcher Skrupellosigkeit. Doch wir leben in einer Zeit, wo das subjektive Empfinden des Einzelnen mitunter höher gewichtet wird als wissenschaftliche Fakten. Insbesondere, wenn das menschliche Leben noch unsichtbar und verborgen schlummert. So äusserte sich z.B. die bekannte amerikanische TV Moderatorin Melissa Harris-Perry vor einigen Jahren in ihrer Show:

Wann beginnt das Leben? Ich denke, die Antwort hängt sehr stark von den Gefühlen der Eltern ab. Ein mächtiges Gefühl, aber keine Wissenschaft.

Aus dem Englischen übersetzt durch den Autor

Aus Zitaten wie diesem wird klar, dass die eigentliche Frage längst von der Sachebene in die Ebene der subjektiven Empfindungen abgedriftet ist. Nicht biologische Fakten bestimmen den Anfang des Lebens - das Leben des Kindes hat dann begonnen, wenn die Eltern dies fühlen. Doch können wir wirklich auf der Basis unserer Gefühle über Leben und Tod bestimmen?

Nachdenkend
Photo by Alex Ivashenko / Unsplash

Es stimmt: Die Gründe, welche zu einem Abtreibungsentscheid führen, sind vielfältig, können durchaus auch triftig sein. Doch keine Begründung (von ethischen Dilemmas im Sinne von "entweder stirbt die Mutter oder das Kind" einmal abgesehen) rechtfertigt die Tötung des ungeborenen Lebens. Das bedeutet aber auch: In allen Lebenslagen, und insbesondere in tragischen Umständen oder existenzieller Not, dürfen die Betroffenen nicht alleine gelassen werden. Es ist unsere Verantwortung als ganze Gesellschaft, sowohl die ganzheitliche Gesundheit und das Wohlergehen der Frau als auch die Integrität des ungeborenen Kindes zu schützen. Mit beratender Unterstützung. Mit medizinischer Versorgung. Wenn die finanzielle Lage schwierig ist, durchaus auch mit finanzieller Hilfe. Es kann nicht sein, dass wir uns dieser Verantwortung entziehen, nur weil es technische Mittel gibt um "das Problem aus der Welt zu schaffen". Und genau um Verantwortung - oder deren Verdrängung - geht es auch in der folgenden Argumentation:

"Die Abtreibung schützt Frauen davor, eine ungewollte Schwangerschaft alleine 'ausbaden' zu müssen."

Ich möchte an dieser Stelle Folgendes festhalten: Es ist absolut richtig, dass eine Frau eine ungewollte Schwangerschaft nicht alleine "ausbaden" soll. Als Mann und Vater bin ich tief betroffen von all den Schicksalen, in welchen die werdende Mutter trotz oder sogar gerade wegen der Schwangerschaft von ihrem Partner sitzen gelassen wird. Auszunützen, dass mein Kind nicht im eigenen Bauch heranwächst, und ob der Verantwortung die Flucht zu ergreifen, halte ich für eine zutiefst feige und menschenverachtende Reaktion. Denn, ob wir es wahr haben wollen oder nicht: Sex und Fortpflanzung können nicht einfach so getrennt werden.

Frau Dr. Betschart berichtet im Interview mit der NZZ, dass viele Paare sich mit der gewählten Verhütungsmethode auf der sicheren Seite fühlen:

"Man darf nicht vergessen, dass auch die beste Verhütungsmethode versagen kann. Verhüten 100 Paare ein Jahr lang mit Kondomen, werden durchschnittlich 6 Frauen schwanger. Da kann man die Verantwortung nicht alleine der Frau unterschieben."

Ja - die Verantwortung kann nicht alleine der Frau untergeschoben werden. Aber: Es ist genauso falsch, Paare, welche trotz Verhütung schwanger werden, als Opfer darzustellen. Hinter Aussagen wie der obigen steht nämlich ganz unverhohlen ein zutiefst moderner Wunsch: Der Wunsch, dass unsere sexuellen Aktivitäten bitteschön nichts mehr mit Fortpflanzung zu tun haben sollen. Schliesslich leben wir im 21. Jahrhundert! Wir wollen den Spass, aber keinesfalls die Verantwortung. Wir wollen die Autonomie, ohne uns um die Konsequenzen sorgen zu müssen. Die weite Verbreitung von Verhütungsmitteln im 20. Jahrhundert haben diese Haltung erst ermöglicht. "Ich nehme ja die Pille / benutze immer Kondome. Somit habe ich doch das Recht, dass aus meiner sexuellen Aktivität keine Schwangerschaft resultiert." Nicht nur in dieser Hinsicht tun wir uns als Gesellschaft schwer, dass jede technische Massnahme auch ihre Grenzen der Zuverlässigkeit und Wirksamkeit hat.

Technologie
Photo by Franck V. / Unsplash

Der Technik delegieren?

Im Kontext der Abtreibungsdebatte wird viel mit Selbstbestimmungsrecht argumentiert, damit, dass insbesondere eine Frau selbst über ihren Körper entscheiden können soll. Doch die Maxime, dass die Autonomie des Individuums über allem steht, ist eine zutiefst ideologische Aussage und keinesfalls eine unantastbare Gegebenheit. Vielmehr ist in allen anderen Lebensbereichen klar, dass die individuelle Autonomie sehr wohl ihre Grenzen hat: Sobald ich mit meinem Wunsch nach Autonomie die (Grund-) Rechte eines anderen Menschen einschränke, sind ihr Grenzen gesetzt. Auch dies ist übrigens in der Bundesverfassung unmissverständlich festgehalten. Ich darf mit meinem Auto nicht so schnell fahren wie ich will, ich darf die Äpfel meines Nachbarn nicht stehlen und ich darf ganz allgemein Leib, Leben und Besitz meiner Mitmenschen nicht bedrohen. Warum sollte aber gerade die sexuelle Autonomie grenzenlos sein? Da, wissenschaftlich gesehen, ein ungeborenes Kind ein echter, lebendiger Mitmensch ist (auch wenn das vielleicht anders empfunden wird), müssen in diesem Fall die Selbstbestimmungsrechte der Frau zu Gunsten der Grundrechte des Kindes eingeschränkt sein.

Jede Handlung hat ihre Konsequenzen - manche sind sicher, manche sind möglich. Jeder aufgeklärte Mensch ist sich über die möglichen Konsequenzen seiner Handlungen bewusst. Ich verstehe nicht, warum wir bei der Sexualität einen anderen Massstab an die Selbstverantwortung setzen sollen als z.B. beim Lenken eines Fahrzeugs: Jeder Lenker muss für seine Fahrweise Verantwortung übernehmen und ist an einen gesetzlichen Rahmen gebunden. Zu schnell fahren muss keine Konsequenzen für ein anderes Leben haben. Sex zu haben auch nicht. Aber wenn - auch unbeabsichtig - plötzlich ein anderes Leben betroffen ist, darf sich niemand der Verantwortung entziehen.

Ein Vergleich: Es gibt heute Autos mit Assistenzsystemen, welche sich in der Fahrbahn befindliche Fussgänger erkennen und im Notfall eine Vollbremsung einleiten. Nehmen wir an, dieses System funktioniert mit einer Zuverlässigkeit von 99.9%. Das bedeutet immer noch, dass in einem von 1000 Fällen die Vollbremsung nicht ausgelöst wird. Wird der Passant in diesem einen Fall angefahren und stirbt, wer trägt die Verantwortung? Ganz klar der Fahrer. Denn trotz des Assistenzsystems ist er für die Folgen seiner Fahrt verantwortlich. Niemand käme auf die Idee, das Anfahren von Passanten zu legalisieren, obwohl der Fahrer ja beim Versagen des Assistenzsystems gewissermassen auch ein Opfer widriger Umstände geworden ist.

Car dashboard on highway
Photo by A. L. / Unsplash

Kurzum: Das intelligente Bremssystem ist eine gute Sache; trotzdem können wir unsere Verantwortung nie an technische Hilfsmittel delegieren. Ganz ähnlich verhält es sich mit den heutigen Möglichkeiten zur Verhütung: Ich denke, Verhütung und Familienplanung ist generell eine gute Sache. Und nein, ich wünsche mich nicht in eine verhütungsfreie Zeit zurück. Doch wir müssen uns bewusst sein, dass Sex auch mit Verhütung immer noch der Mechanismus zur Fortpflanzung des Menschen ist. Schlägt die Verhütung fehl, kann unmittelbar ein neuer Mensch, ein schützenswertes Leben entstehen.

Sorglos und frei?

Ein dunkleres Kapitel, welches die Kaderärztinnen im Interview nicht beleuchten, ist die Anzahl der Abtreibungen nach Sex ohne Verhütung. Ich zitiere noch einmal die Statistik des Schwangerschaftsabbruchs 2014 des Bundes:

In 40% der Fälle benutzte die Frau zum Zeitpunkt der Empfängnis kein Verhütungsmittel. In einem Drittel der Fälle wurde ein Präservativ benutzt und 15% der Frauen wurden trotz Einnahme der Verhütungspille schwanger. In etwas mehr als 8% wurde von einer weniger verlässlichen Verhütungsmethode Gebrauch gemacht, beispielsweise von der Kalendermethode oder vom Coitus interruptus.

Ich wiederhole: Bei sage und schreibe 40% der Abtreibungen wurde zum Zeitpunkt der Empfängnis kein Verhütungsmittel eingesetzt. Und damit können nicht in erster Linie Fälle gemeint sein, bei denen Nötigung oder ähnliches im Spiel war, denn, um noch einmal die Statistik zu zitieren: «Bei [lediglich] 0,6% erfolgt der Abbruch aufgrund von ungewolltem Geschlechtsverkehr.»

Ich kann mich beim besten Willen des Eindrucks nicht erwehren, dass die legalisierte Abtreibung als Vorwand genutzt wird, sich nicht mit den möglichen Konsequenzen seiner Handlungen auseinanderzusetzen. Ich mache mit meinem Körper was ich will. Ich lasse mir die Liebe, ich lasse mir den Sex doch nicht verbieten. Notfalls kann ich mich ja des "Kollateralschadens" wieder entledigen - legal und notabene auf Kosten der Krankenversicherung.

Sexuelle Befreiung? Sexuelle Verantwortung.

Die "sexuelle Revolution" des vergangenen Jahrhunderts wird oft auch als "sexuelle Befreiung" bezeichnet. Doch angesichts der oben geschilderten Tatsachen komme ich zum traurigen Schluss, dass wir vielmehr Gefangene eines neuen Diktats geworden sind: Als Gesellschaft bezahlen wir den Preis für unsere vielbeschworene «FREIHEIT!» mit dem Leben tausender ungeborener Kinder.

The beautiful park-like grounds of Purewa have thousands of graves, some well maintained, others long forgotten. This angel clasps a treasure next to her body.
Photo by Sandy Millar / Unsplash

Wer Sex hat, trägt Verantwortung. Und damit spreche ich explizit Mann und Frau an. Das Kind kann nichts dafür, dass das Kondom geplatzt ist. Oder gar dafür, dass ich Verhütung für überflüssig halte. Genauso wenig wie ein Passant den Preis dafür zahlen kann, dass ich meinem Bremsassistenten blind vertraue und darum am Steuer auch ruhig mal auf dem Handy herumspielen kann.

Etwas weniger plakativ ausgedrückt: Ich glaube, dass uns die Ehrfurcht vor der eigenen Fortpflanzungskraft in unserer Sexualethik verloren gegangen ist. Und ja, ich glaube, es täte uns gut, dazu zurückzufinden. Geschwindigkeitsvorschriften und Strafbarkeit von fahrlässigem Verhalten sind pragmatische Mittel, im Strassenverkehr die maximal mögliche Freiheit für alle Verkehrsteilnehmer zu ermöglichen. Bin ich alleine mit dem Eindruck, dass die christlich geprägte Sexualethik, mit ihrer Betonung auf den lebenslangen Bund zwischen Mann und Frau und dem daraus resultierenden Rahmen der Familie, eigentlich einen ganz und gar pragmatischen Rahmen darstellt, um die Freiheit und den Schutz aller Beteiligten - insbesondere auch den Schutz der werdenden Mutter und des ungeborenen Kindes - sicherzustellen?

Selbstbestimmung war nie allumfassend und wird es nie sein. Denn unbeschränkte Autonomie funktioniert nur im sozialen Vakuum. Ja, es ist eine Grundfeste einer funktionierenden Gesellschaft: Selbstbestimmung darf niemals auf Kosten anderer Menschen geschehen. Ich hoffe, dass künftige Generationen mit einem traurigen Kopfschütteln auf unsere Zeit zurückblicken werden: Auf die Epoche, in welcher ungeborene Kinder geopfert wurden, um die Illusion einer vollkommenen körperlichen Selbstbestimmung aufrechtzuerhalten.

Was tun?

Nachdem ich in den ersten beiden Artikeln primär die ethisch-moralischen Argumente rund um die Vertretbarkeit von Abtreibungen beleuchtet habe, möchte ich in einem dritten und letzten Artikel zum Thema verschiedene Vorschläge zum gesellschaftlichen Umgang mit ungewollten Schwangerschaften beleuchten.

Hier geht's weiter zu Teil 3: «Echte Hilfe wagen!»

Und wenn Fragen offen bleiben?
Bestärkt? Unsicher? Entmutigt? Verwirrt? Empört? Ich freue mich auf deine Fragen oder Kommentare.


Einen vertieften Einblick in die Thematik bietet das Buch «Love thy Body» von Nancy Pearcey, welches kürzlich auch auf Deutsch unter dem Titel «Liebe deinen Körper» erschienen ist.

Grenzenlose Selbstbestimmung?
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