Eine Kurzgeschichte
Der Regen peitschte mir ins Gesicht. Kalt und eisig. Es fühlte sich wie tausend kleine Nadelstiche an. Ich verbarg mein Gesicht in den Händen. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Wie hatte es soweit kommen können? So kurz vor dem Ziel? Ein letztes Mal erhob ich meine Augen und fixierte das Schloss. Stolz und unberührt thronte es da oben zwischen den steilen Felsen. Es schien nah und war doch so weit entfernt. Regen und Wind konnten ihm nichts anhaben. Es wirkte so, wie wenn die Felsen das Schloss halten und umschliessen, ja zu einer Einheit verschmelzen würden.
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Langsam legte sich Dunkelheit über die karge Berglandschaft. Durch die Fenster des Schlosses drang der warme Schein des Kerzenlichts. Ich stellte mir vor, wie schön es da sein musste. Wie warm, gemütlich, in Decken eingepackt vor einem knisternden Feuer zu sitzen. Und dieser einen Person zu begegnen, derentwegen ich den ganzen beschwerlichen Weg auf mich genommen hatte: Dem Besitzer des Schlosses. Ich hatte schon viel über ihn gehört, doch ihn nie selbst getroffen.
«Er ist ein komischer Kauz», hatte mir jemand gesagt. «Diesen Weg auf dich zu nehmen um ihn zu treffen, das lohnt sich nicht.» Doch da waren auch andere Stimmen gewesen: «Er ist ein wunderbarer Vater. Wenn du in sein Schloss kommst, nimmt er dich auf wie sein eigenes Kind.» Ich hatte die Argumente und Meinungen lange abgewogen und mich dann entschieden, es selbst herauszufinden. Doch dass der Weg so beschwerlich würde, das hätte ich mir im Traum nicht vorstellen können. Und nun, so kurz vor dem Ziel, schien alles zu Ende zu sein. Meine Beine wollten mich nicht mehr tragen. Die Schmerzen waren zu gross, die Kraft war weg. Der Rucksack mit all den wichtigen Dingen, die ich dabei hatte, war zu schwer geworden. Er drückte mich auf den harten Steinboden, wo ich nun lag, unfähig, mich zu bewegen.
Ich erhaschte einen letzten Blick auf das Schloss, bevor Tränen meinen Blick verschleierten.
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Ich wusste nicht, wie lange ich da gelegen hatte. Die Dunkelheit um mich herum war so schwarz, dass ich kaum die eigene Hand vor dem Gesicht erkennen konnte.
«Was machst du da?»
Ich zuckte zusammen. Ich wollte schreien, doch meine Kehle brachte keinen Laut hervor. Ich konnte niemanden erkennen. Doch dann, eine sanfte Berührung an meiner Schulter. Und wieder die Frage:
«Was machst du da?»
«Ich... ich wollte ins Schloss. Ich wollte den Besitzer des Schlosses treffen», stammelte ich, ohne zu wissen, mit wem ich da sprach.
«Ah!», mein Gegenüber schien nicht erstaunt zu sein.
Einen Moment lang war es still. Dann sagte die ruhige Stimme:
«Du hast viele Anstrengungen unternommen, um das Schloss zu erreichen. Du hast hart gekämpft. Du hast Lasten geschleppt und hast Grenzen überwunden. Du hast dich selbst aufgeopfert und kein Preis war dir zu hoch für dein Ziel.»
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Woher wusste dieser Mann das alles?
Ich konnte nichts entgegnen. Er hatte Recht.
«Ich bewundere deine Hartnäckigkeit und deine Ausdauer», fuhr er nach einer Weile fort, «doch es wäre nicht nötig gewesen. Du wirst es nicht schaffen.»
«Was?!», erneut war mir zum Schreien zumute.
Nun konnte ich meinen Ärger nicht mehr zurückhalten.
«Warum baut der sein Schloss mit all seinen Reichtümern da oben auf dem Berg, wo niemand hinkommt?», entfuhr es mir. «Ich glaube, dass die Leute Recht hatten, die sagten, er sei ein unbarmherziger und hinterhältiger Herrscher! Er will alles für sich behalten, will sich die Armen vom Leib halten, darum sitzt er da oben auf seinem Thron, ist unberührt und nichts kümmert ihn. Er will niemanden an sich ranlassen.»
Langsam spürte ich, wie Leben in mich kam. Ich versuchte, mich aufzurichten, doch meine Arme und Beine wollten mir nicht gehorchen.
Die Stimme meines Gegenübers blieb ruhig und liebevoll.
«In der Tat, es gibt Menschen, die viel über den Herrscher des Schlosses rumerzählen», gab er zu. «Doch kennst du ihn persönlich?»
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ihn persönlich kennen? Genau das war ja mein Ziel gewesen, so wie das Ziel vieler anderer. Darum hatte ich diesen beschwerlichen Weg auf mich genommen, und war anscheinend nun gescheitert, so wie viele andere vor mir.
«Du sagst, dass er niemanden an sich heranlässt. Aber wie sieht es mit dir aus? Lässt du ihn an dich heran? Stell dir vor, er würde gar nicht immer in seinem Schloss sitzen, sondern dir vor deiner Wohnungstür begegnen, was würde dann geschehen?»
Das war ein völlig neuer Gedanke für mich, den ich zuerst verarbeiten musste. Was hatte das zu bedeuten?
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Plötzlich war es, wie wenn ein heisser Strom durch meinen Körper fliessen würde. Eine Erkenntnis breitete sich in mir aus, die mich überwältigte.
Ich hob meinen Kopf und kniff die Augen zusammen, um den Mann in der Dunkelheit zu erkennen. Ich versuchte, seine Umrisse auszumachen, doch es gelang mir nur schwer. Er hatte sich neben mich auf einen Stein gesetzt.
«Möchtest du aufstehen?», fragte er mich nun. «Ich helfe dir.»
«Ich... wollte dich nur anschauen», kam meine zögernde Antwort. «Bist du der Schlossherr?», ich brachte die wenigen Wörter kaum über meine Lippen.
Der Mann nickte langsam: «Ich bin es.»
Lange war es ruhig. Nur das leise Klatschen des Regens auf den Steinen war zu hören.
Nach einer Weile sprach der Schlossherr weiter. Seine Worte prägten sich tief in mein Herz ein: «Als ich davon hörte, dass du mich kennenlernen willst, habe ich mich auf den Weg gemacht. Ich habe dich überall gesucht. Doch du warst so schnell. Kaum da, schon wieder weg. Es war schwierig, dir wirklich zu begegnen und mit dir zu sprechen. Ich bin dir nachgegangen, aber du hast mir nicht viele Gelegenheiten für ein echtes Gespräch gegeben. Irgendwann habe ich es aufgegeben. Du warst so beschäftigt, hattest so viel Kraft, hast so viele Dinge getan, warst so entschieden. Ich sah, dass du dich in Richtung des Schlosses aufgemacht hast. Da wusste ich, dass ich nur noch zu warten brauche. Auf diesen Moment. Komm in meine Arme.»
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Menschen suchen nach Gott. Doch noch viel mehr sucht Gott nach den Menschen.
Jesus lebte vor 2000 Jahren auf dieser Erde. Er nannte sich selbst Gottes Sohn. Er hat sein Schloss im Himmel und all die Herrlichkeit verlassen, um dich und mich zu finden. Vor meiner Haustüre, gerade dort, wo ich lebe, will er mir begegnen.
Er erwartet nicht, dass ich ihn finde. Er spielt kein Versteckspiel. Er erwartet schon gar keine extremen Anstrengungen von mir. Ganz im Gegenteil: Er möchte mich finden.
Er wartet auf den Moment, in dem all mein eigenes Tun und mein eigenes Suchen zu einem Ende kommt. Und was nach dem Ende kommt, ist eine wahre Begegnung mit ihm, dem lebendigen Gott. Eine Umarmung, die Schmerzen heilt, Wert wiederherstellt und neuen Sinn gibt.
Lässt du dich auch von Gott finden?
Oder hast du dich bereits einmal von ihm finden lassen, aber hattest schon lange keine dieser echten, tiefen Begegnungen mehr mit ihm?