Die Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit ist tief in jedem Menschen verankert. Wie und wo kann sie gestillt werden? Ich lade dazu ein, laut darüber nachzudenken.
Jeder braucht ihn. Nicht jeder hat ihn: Einen Safe Space. Einen Schutzraum oder Freiraum. Ein Ort, an dem ich sein kann, wie ich bin. Wo ich frei denken und mich äussern darf. Gefühle zeigen. Echt sein. Mich meinen Abgründen stellen. Den Brüchen und Illusionen. Auch ein Raum wo vorbehaltslos geträumt und gehofft werden darf.
Es kann ein Ort sein, wie das eigene Daheim, ein Zimmer oder ein Sessel. Es können Menschen sein, in deren Gegenwart ich mich entspanne und meine Schutzschilder runterfahre. Es kann aber auch ein gedanklicher Ort sein, den ich mir ausmale, wo alles passt und stimmig ist.
In meiner Kindheit war samstags immer Dusch- oder Badetag. Generalreinigung. Einweichen. Mit Geschwistern planschen. Danach ab ins Pyjama. Mein persönliches Highlight war es jeweils, bei meiner Grossmutter auf dem Schoss sitzen zu dürfen, während sie mir die Haare föhnte. Sie wohnte damals in einem Zimmer mit Balkon und separatem Bad im obersten Stock unseres Daheims. Ich erinnere mich an ihre sanfte Art. Ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit entfaltete sich bei mir. Sie duftete nach Kölnisch Wasser und ihr Atem roch nach Gaba, diesen Halspastillen aus Süssholzextrakt und Vitamin C.
An der Wand hing ein schwarz-weisses Foto meines verstorbenen Grossvaters in glänzendem Rahmen. Ich habe ihn nie kennengelernt. Er starb, als meine Mutter noch Teenagerin war. Mein "Grossmueti" erzählte mir von ihm, als ich sie einmal fragte, wer dieser Mann auf dem Bild sei. "Er war gescheit wie ein Computer!" sagte sie, mit ehrwürdigem Unterton. Was ein Computer ist, wusste ich damals noch nicht. Aber es klang auf jeden Fall sehr wichtig und bewundernswert.
Erschöpft
Als ich mit 23 Jahren während meiner Ausbildung zum Pflegefachmann eine Erschöpfungsdepression erlitt, fragte mich der behandelnde Arzt in einer Therapiestunde, was meine frühsten Kindheitserinnerungen seien. Ich solle etwas Schönes und etwas Schlimmes nennen. Traumatisch war für mich der Aufenthalt im Kinderspital, als mir mit rund 2 Jahren die Tonsillen entfernt wurden. Ich konnte nicht verstehen, warum mich meine Eltern nicht mit nach Hause nahmen nach der Operation. Sie liessen mich mit starken Halsschmerzen in einem Gitterbett eingesperrt zurück. Das war damals normal und ich bin heute versöhnt mit diesem Erlebnis. Aber es war sozusagen die Antithese von einem Safe Space.
Ein schönes frühkindliches Erlebnis: Das Haare föhnen lassen auf dem Schoss meiner Grossmutter!
Als sie dann Jahre später verstarb, weinte ich bittere Tränen. Ich hatte sie zuvor kaum mehr besucht im Pflegeheim, weil ich als Teenager viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt war. Ich seh uns noch heute, wie wir als Familie im Aufbahrungsraum um ihren Leichnahm standen. Alle weinten. Auch mein Vater. Möglicherweise sah ich ihn damals zum ersten Mal überhaupt weinen. Es war sehr schmerzhaft und traurig. Aber auch hoffnungsvoll. Wir sangen "Jesus Christus ist der Sieger... darum wähl ich ihn!" Auch in der Kirche erlitt ich seelische Schmerzen, als der Lebenslauf von unserem "Grossmueti" vorgelesen wurde. Und dann erst am Grab. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass jemand aus meinem engeren Familien Kreis starb.
Trotz allen hoffnungsvollen Nuancen der Abdankung, war ich tief erschüttert. Gleichzeitig war es, als ob die Augen meines Herzens durch meine Tränen klargewaschen wurden. Ich erkannte erst beim Abschiednehmen so richtig, wie viel mein "Grossmueti" mir bedeutet hatte. Ich schrieb an diesem Tag – eine Stunde vor der Abdankung – ein kleines Klavierstück für sie, das ich bis heute ohne nachzudenken spielen kann, ohne es jemals aufgeschrieben oder recorded zu haben.
Instabil
Ich erlebte mich als Teenager innerlich sehr instabil. Hatte ein tiefes Selbstwertgefühl und nahm meine eigenen Emotionen extrem stark war. Heute weiss ich, dass mein Wesen irgendwo im Hochsensiblen, resp. Hochsensitiven Spektrum verortet ist. Mir fehlen gewisse Filter, die andere haben, wodurch ich vermutlich mehr und intensiver wahrnehme was zwischenmenschlich und innerseelisch abgeht. Ich brauche immer wieder Pausen und Ruhe, um all die Eindrücke zu verarbeiten. Der Aufenthalt in der Natur hilft mir dabei. Musik machen und Songs komponieren wurden zu einem Safe Space. Einem Freiraum. Einem stimmigen, innerseelischen Ort, an dem ich sein kann wie ich bin und wo alle Zusammenhänge irgendwie einen grösseren Sinn ergeben.
Ich erkannte rückblickend, dass mir der Glaube an Gott zwar stets Halt, Hoffnung und Orientierung gab, aber ich erlebte aufs Ganze gesehen nie längere Phasen, in denen ich mich innerlich bei mir selbst angekommen fühlte. Ich war getrieben von der Angst, nicht zu genügen. Ein Gefühl der Wertlosigkeit und Sinnlosigkeit blieb mein ständiger Begleiter. Versagensängste. Zweifel und Worst-Case Szenarien hielten mich gefangen und schienen von der guten Nachricht von Jesus nicht verändert zu werden.
Als ich in den vergangenen Jahren wieder vermehrt längere Zeiten der Erschöpfung erlebte, fing ich an, das Gebetshaus Augsburg zu besuchen. Da lernte ich etwas Neues: Das Verweilen in Gottes Gegenwart, ohne aktiv etwas zu tun. Einfach sein. Bleiben. Loslassen. Mich dem Einfluss meiner Mitwelt unverfügbar machen, um Gott verfügbar zu sein.
"Ich bin jetzt auch da. Vorher war ich unterwegs. Gerannt. Über Jahre. Ich bin müde vom Laufen. Müde vom Hadern und Zweifeln. Ich möchte einfach sein. Bei dir sein. Bei dir verweilen. Du warst immer da. Gestern schon. Wirst auch morgen da sein. Aber ich war oft weg. Ruhte nicht in mir selbst, sondern war stets im Tun. Im Grübeln. Im Lernen. Beim Produzieren und Schaffen. Ich mag nicht mehr. Ich will ankommen. Zur Ruhe kommen. In meinem Körper wohnen und heimisch sein. Da wo du Wohnung nahmst, in meinem Herzen. Mein Leib, dein Tempel. Mein Herz, ein Garten der Begegnung mit Dir, dem Allmächtigen. Da, wo du bist, da will ich auch sein. Du bist mein Gott. Mein Herr und Meister. Mein Lehrer. Du bist mein Safe Space, Jesus."
Pflichtübung?
Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich tief in meinem Herzen anfing zu erfassen und erkennen, dass Jesus gerne mit mir zusammen ist und mein Safe Space sein will. Ich hörte es von Klein auf: Jesus liebt dich! Meine Frage war: Mag er mich auch? Oder ist die Gemeinschaft mit mir eine Pflichtübung für ihn? Dieser Zweifel gründete darin, dass ich zu sehr von mir ausging. Ich konnte mich lange nicht annehmen, wie ich bin. Ich wollte mein sensibles Wesen tarnen. Jemand anderes sein, in der Hoffnung, dann glücklich zu werden. Doch wer sich selbst ablehnt, wird nie bei sich ankommen, so meine Erkenntnis heute. Selbstablehnung kann in Selbsthass münden. Sogar Selbstkasteiung. Dann wieder Selbstmitleid.
In der Gegenwart des gekreuzigten und auferstandenen Jesus verliert meine selbstbezogene Sicht an Gewicht und Bedeutung, weil seine Herrlichkeit und seine Liebe alles andere als unbedeutend klein und substanzlos entlarvt. Die Propaganda der Ego-Utopie bricht kläglich zusammen wie eine in sich zusammenstürzende Bau-Ruine. Jesus streckt mir seine Hand entgegen und sagt:
Bist du müde? Erschöpft? Ausgebrannt von Religion? Komm zu mir. Komm mit mir und lass all das hinter dir, dann wirst du dein Leben wiedererlangen. Ich zeige dir, wie du wirklich zur Ruhe kommst. Geh mit mir und arbeite mit mir – schau mir zu, wie ich es mache. Erlerne den ungezwungenen Rhythmus der Gnade. Ich werde dir nichts Schweres oder Unpassendes auferlegen. Habe Gemeinschaft mit mir und du wirst lernen, frei und leicht zu leben. (Mt 11,28-30 – übersetzt aus The Message Bible)
Der innere Safe Space
Jesus wird zunehmend zu meinem innerseelischen Safe Space. Ich lerne und trainiere mich darin, mich seiner Gegenwart bewusst zu sein und meinen Seelenfrieden aus der Begegnung mit ihm im Hier und Jetzt zu empfangen. Der Heilige Geist nahm Wohnung in meinem innersten Sein. Ich verstehe mein Herz zunehmend als ein Garten der Begegnung mit dem dreifaltigen Gott. Mein Lei
b ist sein Tempel. Schwierige Umstände erschüttern mich immer noch. Aber in mir ist ein neuer Safe Space am entstehen, der mich von inner heraus stabilisiert.
Meine liebe Frau Joanna predigte kürzlich über die Vision unserer Kirche. Zum Schluss gab sie ihren Zuhörern, zu denen auch ich gehörte, hilfreiche Denkanstösse in Form von Fragen:
- Wo ist dein emotionales Zuhause?
- Was beschäftigt dich in deinen stillen Momenten?
- Wohin gehst du, um Trost und Freude zu finden?
- Und wie würde es für dich aussehen, dir ein emotionales Zuhause bei Gott selbst einzurichten?
- Zu was musst du Nein sagen, damit das Realität werden kann?
Es ist mein Gebet, dass auch du deinen Safe Space in Jesus finden darfst. Ein Safe Space, von dem dich niemand trennen kann, nicht einmal der Tod. Das ist auch mein Trost, hinsichtlich meinem "Grossmueti": Sie ruht nun im ewigen Safe Space, im Schoss unseres himmlischen Vaters!