Dass Gott sich meine Anbetung wünscht, ist an sich noch harmlos. Skandalös ist hingegen, dass er dabei der Einzige sein will.
Über Jahre hatte ich Angst davor, Nachbarn oder Arbeitskollegen zu erzählen, dass ich an Gott glaube, sonntags in die Kirche gehe und täglich bete. Was würden sie nur von mir halten? Nun, mittlerweile habe ich herausgefunden: So anstössig, wie ich vielleicht insgeheim auch gehofft hatte 😉, ist mein Glaube gar nicht. Ich ernte im Normalfall ein lächelndes "Ah, ok." oder ein schulterzuckendes "Cool." - Das war's. Irritierte oder feindselige Reaktionen: selten oder nie.
Ganz anders aber, wenn die Sprache auf die "hot topics" unserer Zeit kommt: Sexualmoral, Gender Identity, Lebenssschutz. Hier halte ich auch heute noch viel zu oft den Schnabel, denn ich weiss und habe erlebt, wie sich bei Konfrontation mit kontroversen Ansichten zu diesen Themen - Ansichten, die in der christlichen Sicht für das gute Leben begründet sind - ganz nette Menschen urplötzlich in schäumende Bestien verwandeln können. 🤬
Spannend, oder? "Glaub du nur an deinen Gott. Aber nur so lange, wie du ansonsten schön mitspielst." Anstössig ist nicht, was ich glaube, sondern vielmehr, welche Glaubenssätze der Welt um mich herum ich nicht teile.
Könnte es sein, dass die radikale Einladung Gottes nicht nur in der Einladung, zu glauben, sondern vielmehr auch in der Aufforderung zum "nicht mehr Glauben" liegt? Dass sich ein Nachfolger Jesu im "Nicht-glauben", nicht im Glauben, von seinen Zeitgenossen unterscheidet?
Könnte es sein, dass die radikale Einladung Gottes auch in der Aufforderung zum "nicht mehr Glauben" liegt?
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Zeitgemässe Glaubenssätze
Auch ich bin natürlich ein Kind meiner Zeit. Aufgewachsen mit den Erzählungen und Glaubenssätzen der 90er Jahre. "Du kannst alles werden, was du wirklich willst." "Liebe kann doch keine Sünde sein." Und natürlich John Lennon's "Imagine [...] nothing to kill or die for, and no religion, too". Den Weltfrieden gleich um die Ecke, müssten wir einfach alle noch ein wenig toleranter werden, und dann wird das schon. (Ok, 9/11 war da ein ziemlicher Tiefschlag.) Obwohl von Klein auf christlich sozialisiert, haben die Narrative meiner Zeit meine Werte tief geformt und mein Leben geprägt.
Und jetzt kommt Gott. Und sagt: "Schau, ich freue mich, dass du mich anbetest. Aber es gibt da noch einige Nebenbuhler. Genau so sehr wie mich sucht du auch Wohlstand, Prestige, Unabhängigkeit, sexuelle Erfüllung und deine 'ich lasse alle leben wie sie sind'-Toleranz. Ich will aber, dass du mich alleine anbetest. Getraust du dich?"
Die Propheten im alten Testament sind voll von - teilweise ziemlich expliziten - Bildern, in denen Gott seinem Volk vorwirft, allen möglichen anderen Rettern anzuhängen. Und dabei werden nicht nur hölzerne und steinerne Götter gegeisselt, sondern auch politische Allianzen mit den Mächtigen oder das ruchlose Streben nach Wohlstand. Gott ruft sein Volk eindringlich, ihm alleine zu gehören. In innigem Werben, mit glühender Eifersucht, lädt Gott den Menschen ein, sich ihm ganz und gar anzuvertrauen. Und dabei allen anderen Idealen und Rettern abzuschwören. Gott hält seinem Volk nicht vor, ihn nicht anzubeten - der Tempelbetrieb wurde zur Zeit Jesajas und Jeremias wacker aufrecht erhalten und die Menschen versammelten sich in grosser Zahl zu den vorgeschriebenen Festen. Skandalös in Gottes Augen ist, dass es nebenher eben auch andere Götter gab, denen die Menschen ebenfalls ihr Herz anvertrauten und Versorgung sowie Rettung von ihnen erhofften (vgl. z.B. Jeremia 7).
In innigem Werben, mit glühender Eifersucht, lädt Gott den Menschen ein, sich ihm ganz und gar anzuvertrauen.
Harte Kost, finde ich. Denn mein eigenes Herz kennt die "alternativen Retter" meiner Zeit nur zu gut. Mir wurde in den letzten Jahren mehr und mehr bewusst, dass der Weg mit Jesus zwar mit einem "Ja, ich glaube!" beginnt, aber danach über die Jahre viele mühsam erlernte "Nein, ich glaube nicht mehr, dass..." folgen müssen, welche tief in mein Herz eingeprägte Glaubenssätze nach und nach dekonstruieren. "Nein, ich glaube nicht mehr, dass finanzieller Wohlstand mir Ruhe und Frieden gibt." "Nein, ich glaube nicht mehr, dass totale Autonomie meine Entscheidungen besser und wahrhaftiger macht." "Nein, ich glaube nicht mehr, dass Sex das Verlangen nach Liebe in mir stillen wird." "Nein, ich glaube nicht mehr, dass alle mich mögen müssen." Und darin immer wieder ein verzweifeltes "Herr, ich glaube. Hilf meinem Unglauben."
Einem "Ja, ich glaube!" müssen viele mühsam erlernte "Nein, ich glaube nicht mehr, dass..." folgen.
Un-lernen und nicht-mehr-glauben
Je weiter ich mich auf den Einzigen, eifersüchtigen Gott einlasse, desto mehr spüre ich auch, wie ich anecke. An Gott zu glauben, ist weit weniger skandalös, als all die anderen Erlösungs-Narrative (also Götter) meiner Zeit als nichtig und unnötig abzutun. Erst hier regt sich Widerstand. Erst hier schwingt Toleranz plötzlich in Feindseligkeit um. Und das war schon immer so. Christopher Watkin schreibt:
Die Gläubigen der frühen Kirche wurden nicht verfolgt, weil sie Gott anbeteten. Sie wurden verfolgt, weil sie keinen anderen Gott oder Kaiser nebst Gott anbeteten. (Christopher Watkin, Biblical Critical Theory, eigene Übersetzung)
Man lese in diesem Kontext auch einmal wieder die Geschichte von Daniel und seinen Freunden im Reiche der jähzornig-grössenwahnsinnigen antiken Könige von Babylon und Persien (Daniel 1-6).
Gott sei Dank, sind wir heute in Westeuropa von leiblicher Verfolgung im Normalfall noch weit entfernt. Und ganz ehrlich - ein echtes Gespräch über Glauben, Hoffnung und Erlösung ist doch erst möglich, nachdem mein Gegenüber erst mal zünftig irritiert und seine scheinbar sicheren Glaubensgrundsätze mal kurz so richtig aufgewühlt wurden. Eigentlich macht Rebellion auch Spass. Und öffnet oft erst richtig den Weg für tiefe Gespräche.
Und so widme ich mich jetzt wieder dem "un-lernen" und "nicht-mehr-glauben". Denn ich folge einem Gott, der von sich sagt:
Ich bin der HERR, dein Gott [...]. Du sollst ausser mir keine anderen Götter verehren! 2. Mose 20, 2-3
und
Ich, der HERR, bin der einzige Gott. Nur ich kann euch retten. Jesaja 43,11
Starker Tobak, finde ich.