Wie entsteht eine Identität? Eine kleine Reise durch die Geschichte bringt spannende Aspekte zum Vorschein, die uns weiterhelfen.
Im ersten Teil haben wir grob skizziert, was eine Identität ist und wie sie funktioniert. In diesem zweiten Teil machen wir eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen zwei Grundtypen der Identität.
Identitätsbildung in der Weltgeschichte
Tim Keller beschrieb an der Gospel Identity Conference 2017 die Entstehung der heutigen Identitäten anhand Charles Taylors Buch «Sources of the Self» und gab einen kurzen Abriss über die Veränderungen der Identitätsbildung in den verschiedenen Epochen.
Altertum
Das Höchste Gut im Altertum war EHRE. Ehre bedeutete, deine persönlichen Interessen und Dein Glück für das Wohl der Gemeinschaft zu opfern: Für deine Familie, deinen Clan, deine Sippe, dein Volk. Für die Männer bedeutete das in erster Linie, zur Verteidigung der eigenen Sippe in einem Kampf oder einer Schlacht zu sterben, oder zumindest dazu bereit zu sein. Für die Frauen bedeutete es, Kinder zu bekommen. Möglichst viele Kinder.
In beiden Formen hast du dich für das Wohl der Gemeinschaft geopfert. Das war harte Arbeit. Menschen starben konstant dabei, im Krieg und bei der Geburt von Kindern. Warum erhieltst du Ehre dafür? Weil du nicht primär an deinem eigenen Wohl und Glück interessiert warst, sondern das gemacht hast, was für den Erhalt deiner Familie und Sippe nötig und richtig war.
Diese Identität wurde also von aussen definiert. Warum? Weil du deine eigenen Wünsche, Gefühle und Träume für das Wohl der Gemeinschaft opfern musstest um im Gegenzug als ehrenvolles Mitglied der Gemeinschaft anerkannt zu werden.
Griechen
Später, in der Zeit von Aristoteles und Platon änderte sich dies ein wenig. Sie glaubten nämlich, dass es eine Art kosmische Ordnung gibt. Nicht so sehr ein Gott, eher eine moralische Maxime die im transzendenten Universum existiert. Das höchste Gut bestand infolge darin, über diese kosmische Ordnung nachzusinnen und entsprechend ein tugendhaftes Leben zu führen. Aristoteles würde es also ungefähr so ausdrücken: Das höchste Gut sind Tugenden. Es geht im Leben eines Menschen darum, diese zu erkennen und nach ihnen zu leben, gemässigt, besonnen, gerecht und mutig.
Die Identitätsbildung drehte sich also nicht mehr um die Erhaltung der Sippe. Das höchste Gut, aus dem sich deine Identität bildete, kam aber immer noch von aussen. Deine Aufgabe bestand also darin, alles in deinem Inneren zu unterdrücken, was von dieser kosmischen Ordnung abweicht. Alle altertümlichen Identitäten drehten sich im Kern darum, das zu unterdrücken was in deinem Inneren ist, zu Gunsten von dem, was ausserhalb von dir ist.
Wer validiert dich?
Validieren bedeutet, die Wichtigkeit, die Gültigkeit, oder den Wert von etwas feststellen oder bestimmen. Wer hatte also das Recht zu beurteilen, ob du ein gutes Leben führst oder nicht? Wer war der ausschlaggebende Validierer? Wer hat dein Leben überprüft und dein Leben als gutes Leben anerkennt?
Der entscheidende Validierer im Altertum, die Jury die dein Leben bewertete, war die Gesellschaft. Oder aber deine Eltern. Wenn deine Eltern sagten: «Du bist ein guter Mensch!», dann konntest du dich gut und wertvoll fühlen. Wenn dein Volksstamm sagte: «Du bist ein würdiger Krieger!», dann hattest du einen ehrenvollen Platz in der Gemeinschaft der Krieger. Wenn die philosophischen Denker von Athen sagten: «Du bist ein ernst zu nehmender Philosophen!», dann hattest du einen Platz unter den Philosophen in der Gesellschaft.
Die Gesellschaft definierte also wer du bist: Erfolgreich oder ein Versager. Ein guter oder ein schlechter Mensch. Du konntest dir nicht selber einen Wert zusprechen. Dein Wert musste dir von aussen zugesprochen werden. Sprich, altertümliche Identitäten waren total von aussen bestimmt. Und so sind es die nicht-westlichen Identitäten bis heute. Tim Keller nennt sie "traditionelle Identitäten".
Traditionelle Identitäten
Eine traditionelle Identität ist grundsätzlich von aussen bestimmt und bedeutet, dass du nur dann eine gute Person bist, wenn du dich für deine Familie, für deine Sippe oder für dein Land opferst. Es bedeutet: Ich wähle nicht den Job den ich will, sondern tu was meiner Familie am besten dient. Ich heirate nicht die Person die ich will, sondern die, welche für meine Familie am besten ist. Vielerorts auf der Welt ist das bis heute noch so.
Identitätsbildung vor 500 Jahren
Der Identitätsbildungsprozess veränderte sich ab dem 15. Jahrhundert in drei Stufen.
Stufe 1
Tim Keller erwähnt moderne Denker wie Rene Descartes oder John Locke. Sie glaubten immer noch, dass es etwas Gutes ausserhalb von uns gibt: Absolute moralische Werte, denen wir uns anpassen müssen um gute Menschen zu sein und im Reinen mit uns selbst zu leben. Etwas Entscheidendes änderte sich aber. Sie sagten nämlich, dass du dafür nicht die Bibel lesen, die Tradition beachten oder deine Eltern fragen, sondern nur deinen Verstand benutzen sollst! Verlasse dich ganz auf deinen Verstand! „Cogito ergo sum“ – «Ich denke also bin ich». Lass niemanden bestimmen, was diese absoluten moralischen Werte sind, sondern bestimme sie selbst, indem du deinen Verstand benutzt. Du kannst dich nur auf dein eigenes Denken und eigenen Überlegungen verlassen.
Eine grundlegende Veränderung bahnte sich an. Zunehmend setzte sich die These durch: Du bist immer noch nur dann ein guter Mensch, wenn du dich an diesen absoluten moralischen Werten ausrichtest, aber dein eigener Verstand ist das Mass aller Dinge. Nur mit deinem Verstand kannst du bestimmen, was richtig und falsch ist.
Stufe 2
In der Epoche der Romantik kam ein weiteres Element hinzu. Die Romantiker sagten: Entscheidend ist nicht dein Verstand, sondern dein Herz. Der Weg, der dich zum Guten führt und dich zu einem besseren Menschen macht, führt dich tief in dein eigenes Herz hinein. Die Romantiker glaubten, dass der Mensch in seinem Inneren eigentlich gut ist oder gut war, bevor er von der Gesellschaft zu einem schlechten Menschen deformiert wurde.
Für die Romantiker war nicht Wissenschaft und Verstand der Weg zum Guten, sondern Kunst. Es ging darum, tief in dich hinein zu gehen und deine innersten Intuitionen zu ergründen, um dann einen Weg zu finden, diese kunstvoll auszudrücken. Auf diese Weise konntest du herausfinden wer du bist. So konntest du das Gute definieren und herausfinden, wie du leben sollst. Die Romantiker sagten zwar immer noch: "Das Gute liegt ausserhalb von mir!", aber ich muss tief in mich hineinfühlen, um herauszufinden, was es ist.
Stufe 3
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts, insbesondere nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, setzte sich dann eine neue Erkenntnis durch. Man sagte: Es gibt gar keine absoluten moralischen Werte! Alle moralischen Werte sind entweder sozial konstruiert durch deine Kultur, oder das Produkt evolutionärer Biologie, die unseren Vorfahren zum Überleben dienten. Daraus schloss man: Es gibt nichts ausserhalb von dir, das gut ist und mit dem du dich deshalb verbinden musst, um dich als guter Mensch zu fühlen.
Will heissen: Du gehst in dich und du entscheidest, was richtig und was falsch ist. Du entscheidest was gut und was schlecht ist. Und nur du alleine kannst dich selbst validieren! Niemand sonst. Du musst zu niemandem ausserhalb von dir aufschauen, sondern du allein bestimmst, was richtig oder falsch ist (für dich). Du entscheidest für dich selbst, was es braucht um eine gute Person zu sein. Du entscheidest auch, ob du so oder anders leben willst und lässt niemand anderen bestimmen wer du bist und ob du ein guter Mensch bist oder nicht. Will heissen: Du bist dein eigener Richter.
Diese selbst definierte Identität nennt Tim Keller eine "moderne Identität".
Aussen oder innen?
- Traditionelle Identitäten sind nach aussen gerichtet. Du unterordnest dein persönliches Glück und deine Gefühle unter etwas ausserhalb von dir selbst. Dann weisst du, dass du eine gute Person bist und du erhältst dafür Anerkennung von der Gesellschaft.
- Moderne Identitäten sind komplett nach innen gerichtet. Du gehst nicht nur in dich, um das Gute zu finden, sondern du erschaffst das Gute. Und nur du alleine kannst entscheiden was richtig oder falsch ist für dich.
Pflicht oder Sehnsucht?
- In traditionellen Kulturen bestehst du aus deinen Pflichten. Du erhältst Ehre, indem du deine persönlichen Bedürfnisse unterdrückst und den Pflichten gegenüber deiner Familie und deinem Volk nachkommst.
- In der modernen Kultur bestehst du aus deinen Sehnsüchten. Du gehst in dich hinein und findest heraus wer du sein willst. Wenn du es dann weisst, trittst du damit nach aussen und forderst von den Leuten, der Gesellschaft, deiner Familie, dass sie dich anerkennen.
Wer opfert sich für wen?
- In traditionellen Kulturen opferst du dich für die Familie und Gemeinschaft. Du passt dich ihren Forderungen und Pflichten an.
- In der modernen Kultur forderst du, dass die Gemeinschaft sich für dich opfert. Sie müssen sich dir anpassen, nicht umgekehrt.
Wo findet die Auseinandersetzung statt?
- In traditionellen Kulturen findet die Auseinandersetzung im Inneren statt. Du gehst in dich und sprichst zu deinem Herzen: Ich weiss es ist hart. Ich weiss, dass du das nicht magst. Aber du musst so leben.
- Bei den modernen Identitäten wird die Auseinandersetzung nach aussen verlegt. Du gehst in dich, findest heraus wer du sein willst und trittst dann nach aussen und schreist jeden an: Du musst mich anerkennen! Du musst mich so akzeptieren, wie ich mich selbst definiert habe!
Schlussbemerkung
Es geht in dieser Gegenüberstellung lediglich darum, den Unterschied dieser beiden Identitäten zu verstehen. Beide haben ihre Vor- und Nachteile, wie wir in späteren Artikeln sehen werden.
Das Ziel dieser Themen-Serie ist die Erkenntnis, wie Jesus die Identität seiner Schüler prägt und formt.
Jesus ist weder traditionell, noch modern. Jesus hat einen dritten, viel besseren Weg für uns bereit und eine einzigartige Identität, die allen Höhen und Tiefen des Lebens standhält. Er sagt: Mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.
Fortsetzung: