Ein Ahornblatt ist auf unseren Balkon gefallen. Dieses einfachste aller Ereignisse wäre nicht erwähnenswert, wenn es nicht für jemanden zum Aufsteller des Tages geworden wäre: Unsere beiden Hauskatzen, die solches noch nie gesehen, haben sich zehn Minuten mit dem Blatt beschäftigt.
Die Szene hat mich sofort an meine Lieblingsfotographie erinnert. Sie zeigt einen taubgeborenen Jungen im Moment, als er zum ersten Mal mithilfe eines Hörgeräts hört. Der Ausdruck in seinen Augen ist der positive Schrecken, ein Staunen, das weit über Vergnügen hinausgeht. Was die Katzen und diesen Jungen verbindet, ist die Erfahrung einer Dimension, die ausserhalb ihrer bisherigen Vorstellungskraft liegt. In meinem Dorf gibt es hunderte Katzen, die einem Ahornblatt keine Sekunde Aufmerksamkeit schenken würden.
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Doch für unsere Katzen, die seit ihrer Geburt im Haus gelebt haben, ist dieses Ahornblatt ein superinteressanter Alien; dasselbe gilt für die einzelnen Käfer, Äste und anderen Gegenstände, die sich auf den Balkon verirren. Es stimmt mich traurig, dass unsere Katzen vermutlich nie in ein Leben eintauchen werden, in dem Ahornblätter langweilen – ihre Perspektive endet mit den "Abenteuern" auf dem Balkon. Der Hörsinn, der dem Jungen geschenkt wurde, öffnet Türen zu einem Leben, das für einen Tauben einfach nicht vorstellbar ist.
Viel zu bescheiden
Auch ich kratze an der Oberfläche von dem, was Menschsein bedeutet. Laut schreit meine erfahrbare Welt und will meine volle Aufmerksamkeit, besonders in Krisenzeiten. Doch es gibt eine Welt hinter diesem Vorhang – Matrix lässt grüssen. Ich habe gelernt, dass meine Sehnsüchte ein entscheidendes Element sind, um diese verborgene Welt zu entdecken. Leider habe ich mich dafür geschämt.
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Denn meine Wünsche passen so gar nicht zu dem, wie es um mich in der sichtbaren Welt steht. Ich träume von Abenteuer, Bedeutsamkeit, Leidenschaft und Heldenmut, mein Alltag repräsentiert aber alles andere als diese Werte. So habe ich den Schmerz über den Graben zwischen scheinbarer Realität und Sehnsucht mit menschlichen Freuden betäubt, und habe mich selber abfällig Schwärmer und Träumer genannt. Die Kehrtwende kam, als Gott mir mit einem Zitat von C.S. Lewis eine ganz unerwartete Antwort gab:
«Es scheint, dass unser Herr unsere Wünsche nicht zu stark, sondern zu schwach findet. Wir sind halbherzige Wesen, die mit Alkohol, Sex und Ehrgeiz herumalbern, wenn uns unendliche Freude angeboten wird; wie ein unwissendes Kind, das weiterhin Schlammkuchen in einem Slum machen möchte, weil es sich nicht vorstellen kann, was mit dem Angebot eines Urlaubs am Meer gemeint ist. Wir sind viel zu leicht zufrieden.»
C.S. Lewis, in: Das Gewicht der Herrlichkeit und andere Essays
Was, wenn meine Sicht des Lebens nicht übertrieben ist, sondern zu bescheiden? Was ist, wenn ich mich gerade an einzelnen Ahornblättern auf meinem Balkon erfreue, doch eigentlich freien Zugang zum Wald hätte? In der sichtbaren Welt verführt Gold die Herzen der Menschen, in der himmlischen Welt dient es als Strassenpflaster. Die ganze Grösse von Gottes Welt hat in einem Menschen kaum Platz. Wer meint, das Königreich Gottes in all seiner Schönheit erfasst zu haben, schöpft den Ozean mit einem Becher. Wir sind aber gemacht, um darin wie Fische zu schwimmen.
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Demnach geht es im Leben nicht darum, bescheidener zu werden, sondern sich Augen schenken zu lassen dafür, dass unsere Sehnsüchte darin ihre Erfüllung finden, dass wir Kinder des lebendigen Gottes heissen dürfen. Jesus Christus ist derjenige, der den Vorhang zu Gott gezogen hat – sprichwörtlich.
Coronazeit, God-insight
Als ihre Welt den Bach hinunter ging, hat Gott den Menschen seine gezeigt. Und er winkte nicht schadenfroh mit etwas Unerreichbarem, sondern bot ihnen seine Welt als Besitz an. Die Propheten sind das beste Beispiel dafür: In schwierigen Zeiten Israels zeigte Gott diesen Männern seinen Heilsplan. Krisen enttäuschen das Bild der heilen sichtbaren Welt und machen uns offen für das, was hinter dem Vorhang liegt. Vielleicht stellt die Pandemie eine solche Zeit dar. Gott lädt uns ein, in solchen Phasen in seine Gegenwart einzutauchen und auf ihn zu schauen.
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Dann wird das passieren, was der taube Junge erfahren hat: Wir bewegen uns wie vorher durch den Alltag, doch jetzt haben wir neue Sinne bekommen, wahrzunehmen, was um uns und in uns passiert. Oder wie es Charles Spurgeon ausdrückt:
«Halte dein Herz nahe bei Christus, und er wird dich oft besuchen und so Wochentage in Sonntage, Mahlzeiten in Sakramente, Häuser in Tempel und die Erde in den Himmel verwandeln.»
Charles Spurgeon
Tatäschlich ist dieser Wunsch Gottes, uns an seiner Welt teilhaben zu lassen, das Thema meines Taufverses. Er ist Gottes Einladung an dich und mich:
So spricht der HERR, der die Erde gemacht, sie gebildet und gegründet hat – HERR ist sein Name: Rufe mich an, so will ich dir antworten und will dir kundtun große und unfassbare Dinge, von denen du nichts weißt.
Jeremia 33, 2-3