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Tränen der Vergeblichkeit

Josua Hunziker Josua Hunziker

Was Petrus mit einem Erziehungsbuch zu tun hat, warum ich heute noch regelmässig Tränen vergiesse und was Gott mir als Vater schon längst voraus hat.

Eigentlich mag ich keine Erziehungsbücher. Nicht, dass ich mich nur ungern mit dem Thema "Vater sein" auseinandersetzen würde: Ganz im Gegenteil mache ich mir täglich Gedanken über meine Kinder, ihre Beziehung zu mir und wie ich ihnen ein guter Vater sein kann. Meine Skepsis gegenüber Erziehungsbüchern liegt eher darin begründet, dass mir diese viel zu oft als "Rezeptbücher" daherkommen, welche Tricks und Methoden präsentieren um bei meinen Kindern ein bestimmtes Verhalten hervorzurufen. Das macht bei Maschinen und Computern sehr viel Sinn - bei lebendigen Beziehungswesen aber meines Erachtens nicht so sehr.

Meine Lektüre in den Sommerferien machte da eine erfrischende Ausnahme: In seinem Buch "Unsere Kinder brauchen uns!" beleuchtet der kanadische Entwicklungspsychologe Gordon Neufeld in erster Linie die Beziehungsdynamiken, welche das Heranwachsen und Reifen eines Kindes begleiten. Nebst vielen guten Inputs, welche ich aus diesem Buch mitgenommen habe, ist bei mir vor allem ein Begriff hängen geblieben: Die "Tränen der Vergeblichkeit".

I just love the thought that great things are coming. No matter what you’re currently going through, there’s so much to look forward to.
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Von kleinen und grossen Katastrophen

Jeder von uns kennt Situationen der Vergeblichkeit: Ein sehnlicher Wunsch geht nicht in Erfüllung. Ein anvisiertes Ziel rückt irgendwo auf dem Weg in weite Ferne oder wird gar unerreichbar. Ein Gegenstand, der mir viel bedeutet, ist irreparabel defekt. Eine Beziehung, die mir wichtig ist, geht in Brüche. Eine Person, die mir nahe steht, stirbt.

Das eigentlich Herausfordernde an all diesen Situationen ist oft, dass all mein Wollen und Wünschen, all meine Anstrengung vergeblich ist. Ich bin machtlos. Meine Freunde und meine Familie können mir nicht helfen. Die Realität hat mich eingeholt. Frust steigt in mir auf. Wut auf die Umstände, Personen, die mir im Weg stehen, auf mein Schicksal, vielleicht auf Gott.

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In der Welt meiner Kinder können bereits "kleine" Katastrophen überwältigend sein. Der Wunsch-Dessert ist heute nicht verfügbar. Die Freundin will nicht mitspielen. Das Lieblings-Stofftier ist bei der Oma liegen geblieben. Neufeld ermutigt uns Eltern in solchen Situationen, unsere Kinder von Wut und Frust zu den befreienden Tränen der Vergeblichkeit zu führen. Ihnen einerseits die Vergeblichkeit ihres Wollens und Wünschens klar vor Augen zu führen, ihnen aber andererseits mit Liebe und Empathie beizustehen, die Situation so wie sie ist zu akzeptieren. Oft führt dieser Weg über Tränen - Weinen befreit und hilft Kindern wie Erwachsenen, der Trauer Raum zu geben und so wieder ins emotionale Gleichgewicht zu finden. Ist das einmal geschafft, können Pläne geschmiedet werden, wie mit der neuen Situation umzugehen ist.

Ich glaube: Nicht nur für Kinder ist das Vergiessen von Vergeblichkeitstränen heilsam. Wann hast du das letzte Mal Tränen der Vergeblichkeit geweint?

Vergeblichkeit akzeptieren lernen

Wenn ich an mein bisheriges Leben zurückdenke, fallen mir auf Anhieb so einige Situationen ein, in welchen mir die Vergeblichkeit meiner Wünsche schmerzhaft bewusst wurde. Zum Beispiel als meine beiden älteren Brüder für eine Woche ins Jungschar-Sommerlager aufbrechen durften, und ich alleine mit meinen Eltern zu Hause bleiben musste. Oder als ich mich, meinem Bubentraum folgend, zur Selektion der Militärpiloten-Ausbildung angemeldet hatte, nur um wenige Wochen darauf Kurzsichtigkeit diagnostiziert und eine Brille auf die Nase gesetzt zu erhalten. Mich mit Brille gegen ca. 1000 Mitbewerber durchsetzen und schliesslich im Super Puma-Cockpits sitzen? Keine Chance!

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Oder später, als mir meine damalige Freundin - für mich aus heiterem Himmel - eröffnete, dass es mit unserer Beziehung vorbei sei. Und sie schon wenig später sehr ernsthaft mit einem anderen jungen Mann liiert war. Gerade bei dieser Begebenheit mag ich mich noch sehr gut an meine Tränen der Vergeblichkeit erinnern. Nach einer von langen, schlaflosen Nacht stieg ich frühmorgens in meine Wanderschuhe und marschierte los - ohne Plan, ohne festes Ziel. Ich musste mich einfach bewegen, den Frust rauslassen. Immer wieder blieb ich völlig ausser Atem stehen, nur um kurz darauf meinen manischen Lauf fortzusetzen. Immer bergauf. Am höchsten Punkt angekommen, erblickte ich vor mir einen Aussichtsturm. Mit grossen Schritten spurtete ich die Stufen empor. Auf der Plattform angekommen, sackte ich in mich zusammen. Und dann kamen sie: Die Tränen. Ich konnte weinen. Meine Wut und mein Frust verwandelten sich in Trauer. Und ich konnte beten. Fand langsam wieder in die Zone des Vertrauens zu meinem guten, himmlischen Vater zurück. Ich weiss nicht, wie lange ich dort auf dem Boden dieser Aussichtsplattform sass. Ich spürte die leicht irritierten Blicke der anderen Wanderer auf mir - so einige kamen und gingen während der Stunden, die ich dort verbrachte. Als ich mich dann wieder auf den Heimweg machte, waren mein Herz und meine Schritte leichter. Ich hatte wieder an Perspektive gewonnen. Rückblickend bin ich Gott dankbar, dass er mich zu diesem Moment der Tränen und wieder daraus heraus geführt hat - während der folgenden Monate und Jahre stellte er meine Identität sprichwörtlich auf ein neues, tieferes Fundament in seiner Gnade. Nicht zuletzt dank diesem Fundament darf ich heute in einer glücklichen, erfüllten Ehe leben.

Vergebliche Vorsätze

Ich bin tief überzeugt, dass es uns als Nachfolger Jesu gut tut, immer wieder Tränen der Vergeblichkeit zu weinen. Denn solche Tränen öffnen unser Herz, Gottes Wirken in unserer Schwachheit Raum zu geben.

Ein treffendes Beispiel dafür finden wir in der Bibel bei Petrus. Petrus, der Fels, der feurige Jünger, der von sich sagt, dass er Jesus bis in den Tod die Treue halten würde. Und der doch kurz darauf mit seinem Versagen in diesem bewundernswerten Vorsatz konfrontiert war. Anstatt Jesus in den Tod zu folgen, leugnete er bei erster Gelegenheit jegliche Verbindung zum Angeklagten. Anstatt ihn zu einem mutigen Zeugnis zu ermächtigen, lösen sich seine Vorsätze bei erster Gelegenheit in Staub auf:

Und er leugnete abermals und schwor dazu: Ich kenne den Menschen nicht. (Mt 26,72)

Spätestens als dann wie von Jesus angekündigt ein Hahn den nahenden Tag ankündigt, bricht für Petrus eine Welt zusammen. Spätestens jetzt wird ihm klar, wie vergeblich all seine Vorsätze waren:

Da dachte Petrus an das Wort, das Jesus gesagt hatte: Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er ging hinaus und weinte bitterlich. (Mt 26,75)
A picture can tell us everything without telling any kind of words
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Damit könnte die Geschichte von Petrus nun enden. Ein weiterer Mann mit grossen Ambitionen, dessen Selbstbild, Wünsche und Träume an der Realität gescheitert sind. Doch stattdessen geschieht etwas ganz Wunderbares: Jesus, der Petrus mit seiner nüchternen Ankündigung des bevorstehenden Versagens scheinbar schon abgeschrieben hatte, "knöpft" sich Petrus noch einmal ganz persönlich vor. Wir lesen in Johannes 21 von diesem wunderbaren Dialog zwischen Petrus und seinem auferstandenen Meister. Dreimal wird Petrus aufgefordert, Jesus seine Liebe zu bezeugen. Dieser kommt der Aufforderung seines Herrn nach, wird aber gleichzeitig traurig: Noch einmal wird ihm sein Versagen, die Vergeblichkeit seiner Vorsätze bewusst.

Aber Jesus belässt es eben nicht bei der Traurigkeit, bei der Vergeblichkeit. Jesus führt Petrus weiter, fordert ihn auf, nicht beim Versagen stehen zu bleiben: "Weide meine Lämmer" - "Weide meine Schafe". Damit kann nicht gemeint sein, dass Petrus weiterhin aus guten Vorsätzen und starkem Willen agiert. Sondern vielmehr diese Dimension des Handelns im Vertrauen auf Gottes Gnade, welche der Apostel Paulus im 2. Korintherbrief so wunderbar zum Ausdruck bringt:

Aber er hat zu mir gesagt: »Meine Gnade ist alles, was du brauchst! Denn gerade wenn du schwach bist, wirkt meine Kraft ganz besonders an dir.« Darum will ich vor allem auf meine Schwachheit stolz sein. Dann nämlich erweist sich die Kraft von Christus an mir. (2. Kor 12,9)

Durchbruch der Gnade

Noch immer weine ich regelmässig Tränen der Vergeblichkeit. Nicht, dass ich diese Momente mag. Es sind Momente, in denen mir die Begrenztheit meines Strebens, meiner Bemühungen und meines Wollens bewusst wird. Momente der Schwachheit, des Versagens. Doch ich habe gelernt, diese Momente trotz ihres bitteren Beigeschmacks zu schätzen.

Ich bin kein guter Mensch. Ich liege weit hinter meinen Ambitionen zurück. Ich möchte meiner Frau ein liebender, fürsorglicher, ermutigender und offener Ehemann sein. Meinen Kindern ein guter, liebevoller, nahbarer, empathischer Vater. Und natürlich ein feuriger, leidenschaftlicher Nachfolger Christi.

Stattdessen finde ich mich nur zu oft in Mustern des Rückzugs, des Verbergens und des Selbstmitleids wieder. In Mustern des Suchens nach Anerkennung und Status, nach Komplimenten und Applaus. In Gedanken des "zu-kurz-Kommens" und "eigentlich-mehr-verdient-Habens". Ich stemme mich dagegen, ich nehme mich zusammen, fasse gute Vorsätze und übe mich in Disziplin. Doch all meine Anstrengung ist und bleibt in letzter Konsequenz - vergeblich. Es gibt immer wieder Momente, wo mich das zutiefst frustriert. Wo ich damit ringe. Es nicht wahrhaben will. Bis der Moment kommt, wo sie durchbrechen - die Tränen der Vergeblichkeit.

Water drops on glass
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Es sind besondere Momente, die ich dann jeweils erleben darf. Momente, in welchen mir Gottes Gnade ganz neu vor meine tränenverschleierten Augen gemalt wird. Sie gleicht der Sonne, die durch meine grauen Wolken der unerreichbaren guten Vorsätze bricht. Es sind Momente des Aufgebens. Momente der persönlichen Niederlage - und gleichzeitig Momente des ultimativen Sieges. Nicht meines persönlichen Sieges, sondern des Sieges Christi am Kreuz. Eines Sieges, den ich immer und immer wieder auf Knien annehmen darf. Und der mich mit Paulus danken lässt:

Aber er hat zu mir gesagt: »Meine Gnade ist alles, was du brauchst! Denn gerade wenn du schwach bist, wirkt meine Kraft ganz besonders an dir.« Darum will ich vor allem auf meine Schwachheit stolz sein. Dann nämlich erweist sich die Kraft von Christus an mir. (2. Kor 12,9)

Was Dr. Neufeld uns modernen Eltern rät, tut unser Vater im Himmel mit seinen Kindern schon seit allen Zeiten: Er führt uns die Vergeblichkeit unserer guten Vorsätze, unseres Tuns und Strebens klar vor Augen. Er begleitet uns als liebevoller Vater durch Scham, Frust und Wut zu den Tränen der Vergeblichkeit. Und schenkt uns darin eine neue Perspektive davon, was es heisst, sich ganz auf seine Gnade zu verlassen.

Er möchte diesen Weg auch mit dir gehen. Lässt du es zu?

Tränen der Vergeblichkeit
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