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Du liebst also das Meer?

Josua Hunziker Josua Hunziker

Mit dem Meer legst du dich nicht an - du passt dich ihm an. Denn das Meer lässt sich nicht in dein Schema pressen. Gott auch nicht.

Traumferien. Traumferien hast Du erlebt, dort, auf dieser einsamen Insel in der griechischen Ägäis. Zwei Wochen herrliche Stille, türkisblaues Meer und mediterrane Sonnenwärme gepaart mit einer immerwährenden frischen Brise. Lieblichkeit und Vollkommenheit haben eine neue Bedeutung erlangt, dort, an diesem perfekten Ort des Rückzugs in unberührter Natur. Am letzten Abend schreibst du in dein Tagebuch: "Ich liebe das Meer mit all seinen Facetten! Das frische Azurblau des Morgens, das gleissende Türkis des Mittags und die orangene Pracht des Sonnenuntergangs. Der Rhythmus der Wellen, das Glitzern des Sonnenlichts auf der tanzenden Oberfläche. Ja, ich liebe das Meer! Ach, könnte ich doch für immer hier bleiben..."

Kefalonia - Mirtos
Photo by George Prentzas / Unsplash

Eine neue Facette

Doch dann kommt der Tag der Abreise. Und alles ist anders. Was sich am Vorabend noch mit einem leichten Anschwellen des Windes angekündigt hat, ist über Nacht zu einem regelrechten Sturm angewachsen. Das ruhige Meer, in welchem gestern noch die glühende Sonne versunken ist, hat sich in eine graue, aufgebrachte Masse verwandelt, welche wuchtig und wütend gegen die Klippen schlägt. Der Regen prasselt auf dich ein, während du dich auf dem Weg zum kleinen Hafen gegen den Wind stemmst, den Koffer fest umklammert. Doch als dich der erstaunte Blick des Hafenmeisters trifft, wird dir endgültig klar, dass du bei diesem Wetter heute das Festland nicht mehr erreichen kannst.

Es wird ein wahrhaft trister Tag. Die Familie und den Chef informiert, den Flug auf den nächsten Tag umgebucht. Und dann die Warterei. Die Minuten scheinen Stunden zu dauern. Verwundert erinnerst du dich an die letzten Tage, die nicht lange genug sein konnten - stundenlange hast du das Meer, die Küste und den Kiefernwald betrachtet. Dir gewünscht, dass du ewig bleiben könntest. Aber jetzt? Nur noch nach Hause. Im Minutentakt den Wetterbericht gecheckt. Am Abend im Bett, aber an Schlaf ist nicht zu denken. Der Wind pfeift noch immer über die Dächer und das Brausen der Wellen ist ungemindert. Endlich, lange nach Mitternacht, fällst du in einen unruhigen Schlaf...

Inevitability
Photo by Hatham Al-Shabibi / Unsplash

Hoffnung

Als du aufwachst, keimt Hoffnung auf: Die Sonne drückt durch die Ritzen der Fensterläden, das Tosen des Meers ist wieder dem rhythmischen Rauschen von sanfteren Wellen gewichen. Heute also geht es nach Hause! Fröhlich pfeifend marschierst du zum Hafen, innerlich etwas lächelnd über die gestrige Unruhe. So schlimm war ja der Sturm eigentlich auch nicht... Doch anstatt der wartenden Fähre erblickst du am Hafenquai nur einen alten Fischer, welcher konzentriert am Horizont etwas zu suchen scheint. "Ans Festland?" antwortet er auf deine Frage. "Eher nicht heute. Das Meer hat sich noch nicht beruhigt... Kommen Sie morgen wieder." Und sein Blick wendet sich wieder dem Horizont zu. Deine gute Laune wandelt sich schlagartig in Wut: "Morgen wieder kommen? Was fällt Ihnen eigentlich ein? Wissen Sie denn, was ich schon heute alles für Termine verpasst habe? Morgen haben wir eine wichtige Projektsitzung! Schauen Sie doch mal das Wasser an - was soll bei diesen kleinen Wellen schon passieren? Falls es eine Frage des Geldes ist, dann..."

Leicht irritiert schüttelt der Fischer den Kopf. Auch dass du ihm mit dem Wetterbericht vor der Nase herumfuchtelst scheint ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken. "Wissen Sie", sagt er schliesslich "Ich habe mein ganzes Leben am und auf dem Meer verbracht. Ich liebe das Meer mehr als alles andere - es ist das Rückgrat meines Lebens." Er lächelt geheimnisvoll und fährt fort: "Doch je besser ich das Meer kenne, desto mehr fürchte ich es. Genauso wie es mir heute Leben gibt, könnte es mir morgen das Leben nehmen. Das Meer lässt sich nicht zähmen, es lässt sich nicht beherrschen. Das Wasser, das auf den ersten Blick so friedlich aussieht, bildet nach einem Sturm wie gestern unberechenbare Strömungen. Jedes Schiff, das da raus fährt, wird fast unweigerlich auf Grund laufen. Jaja, wer weiss schon, was die See heute vorhat..." Er kneift seine Augen zusammen und lässt den Blick wieder zum Horizont schweifen. "Schliessen Sie Frieden mit dem Meer", rät er dir schliesslich. "Schliessen Sie Frieden." Er wendet sich um und lässt dich etwas verdattert und nachdenklich am Quai stehen.


Photo by Ilona Froehlich / Unsplash

Ich liebe, was mir passt

Es ist einfach, das Meer in all seinen Facetten zu lieben, wenn es sich von der besten und angenehmsten Seite präsentiert. So, wie ich mir das perfekte Ferienmeer vorstelle - nein, sogar noch etwas schöner! Ja, das Meer wäre doch viel einfacher zu lieben, wenn es sich nicht immer wieder von seiner garstigen Seite zeigen würde. Doch hat nicht auch die Wucht der Wellen ihre Schönheit? Sind nicht gerade die bizarren Formen der Klippen nur möglich, weil die unbändige Kraft der Wellen den Stein immer und immer wieder bearbeitet haben? Das Meer lässt sich nicht in unser Schema von Schönheit pressen. Es lässt sich in gar kein Schema pressen. Das Meer ist unbändig, ungezähmt, wild und unberechenbar. Niemand weiss das besser als die Bewohner einer Insel oder Menschen, die zur See fahren. Mit dem Meer legst du dich nicht an - du kannst dich ihm nur anpassen.

Dabei ist das Meer in seiner ganzen Schönheit und unbändigen Macht nur ein schwaches Abbild seines Schöpfers. In Hiob 38 stellt Gott sich denn auch auf eindrückliche Art und Weise als der mächtige Schöpfer von Erde und Meer vor, ja als der Einzige, der das Meer in seine Schranken weist:

1 Und der HERR antwortete Hiob aus dem Sturm und sprach: 2 Wer ist's, der den Ratschluss verdunkelt mit Worten ohne Verstand? 3 Gürte deine Lenden wie ein Mann! Ich will dich fragen, lehre mich! 4 Wo warst du, als ich die Erde gründete? Sage mir's, wenn du so klug bist! 5 Weißt du, wer ihr das Maß gesetzt hat oder wer über sie die Messschnur gezogen hat? 6 Worauf sind ihre Pfeiler eingesenkt, oder wer hat ihren Eckstein gelegt, 7 als die Morgensterne miteinander jauchzten und alle Gottessöhne jubelten? 8 Wer hat das Meer mit Toren verschlossen, als es herausbrach wie aus dem Mutterschoß, 9 als ich's mit Wolken kleidete und in Dunkel einwickelte wie in Windeln, 10 als ich ihm seine Grenze bestimmte und setzte ihm Riegel und Tore 11 und sprach: »Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter; hier sollen sich legen deine stolzen Wellen!«? (Hiob 38, 1-9, Luther 2017)


Photo by Rene Bieder / Unsplash

Ein vielseitiger Gott

Doch wie schnell sind wir auch in unserer Anbetung in Gefahr, Gott unser Schema aufzudrücken. Wenn ich dich fragen würde: "Was liebst du denn an Gott?", so bin ich ziemlich sicher, dass Aspekte von Gott wie seine Liebe, seine Gnade, seine Hilfe sowie die Freude und den Frieden, den er schenkt, in deiner Aufzählung auftauchen würden. Doch was ist mit dem herrschenden Gott? Dem eifersüchtigen, dem eifernden Gott? Dem zornigen Gott? Dem Kriegshelden? Unsere moderne, westliche Kultur hat ihre liebe Mühe mit diesen Attributen. Lieber halten wir uns am "lieben Gott" fest und drücken von stimmigen Harmonien begleitet unsere Sehnsucht nach seiner sanften Berührung aus.

Ich glaube, wir sollten das Eine nicht gegen das Andere ausspielen. Ja, Gott ist ein liebender, gnädiger, helfender Gott des Friedens und der Freude. Aber er hat auch andere Seiten, ist Herrscher, Eiferer, Held und eifersüchtiger Bräutigam. So wie das Meer nicht nur azurblau und türkis schimmert, sondern auch grau und aufgebracht an die Küste schmettern kann. Das macht ihn nicht weniger schön oder liebenswert - im Gegenteil, ich glaube, es ist vielmehr unsere verkümmerte Definition von Schönheit und Liebe, welche dringend ein Update benötigt. Ist tiefe Schönheit nicht gerade das, was unsere Schablone sprengt, unser Verständnis übersteigt und uns neue Blickwinkel und Perspektiven eröffnet? Und was für einen Wert hat eine Liebe, die alles ausblendet, was nicht gerade ins Bild und zu meiner Stimmung passt?

Greece
Photo by Joran Quinten / Unsplash

Gottesfurcht

Wir lesen in der Bibel auffällig viel von Gottesfurcht - zu viel, um diesen Begriff einfach ignorieren zu können und uns an den "lieben Gott" zu halten. König Salomo schreibt im Buch der Sprüche sogar gleich zu Beginn:

Die Furcht des HERRN ist der Anfang der Erkenntnis. Die Toren verachten Weisheit und Zucht. (Sprüche 1,7, Luther 2017)

Furcht als Anfang der Erkenntnis? Moment mal - die Aufklärung hat uns doch gelehrt, dass die Vernunft die Grundlage aller Weisheit und Erkenntnis ist. Und warum in aller Welt soll Furcht etwas mit Erkenntnis zu tun haben?

Nehmen wir noch einmal den Fischer aus der einleitenden Geschichte zur Hilfe: Der Fischer hat keine Angst vor dem Meer, doch er fürchtet es. Er weiss, mit welcher unbändigen Kraft er es zu tun hat. Er hat wahrscheinlich Bekannte und Freunde verloren, welche die Tücken des Meeres unterschätzt haben. Er weiss, wann es ratsam ist im sicheren Hafen zu bleiben. Nicht, weil er Angst hat, sondern weil er zu einer realistischen Einschätzung der Kräfte gelangt ist: Er weiss, wie wenig Macht er gegenüber den Wellen hat. Er hat damit Frieden geschlossen, er hadert und zaudert nicht. Er hat gelernt, das Meer nicht nur trotz, sondern gerade wegen seiner Weite, Unberechenbarkeit und Macht zu bestaunen und zu lieben.

Das biblische Verständnis von Furcht hat also nicht direkt mit Angst zu tun. "Furcht" bezeichnet vielmehr ein vertieftes, umfassendes Erkennen davon, mit wem ich es zu tun habe und eine daraus folgende tiefe Ehrfurcht. Ich erkenne, wer ich bin. Ich erkenne, wer Gott ist. Und je tiefer diese Erkenntnis wird, desto grösser werden meine Ehrfurcht, mein Respekt und meine Demut. Und auch mein Staunen, meine Anbetung und daraus schliesslich meine Liebe für diesen buchstäblich unfassbaren Gott, welcher sich für mich, den einzelnen, kleinen Menschen persönlich interessiert. Welcher mich, vergleichsweise ein Stäublein im Universum, über alles liebt. Welcher alles dafür hingab, die zerbrochene Beziehung zu mir wieder herzustellen.


Photo by Stijn te Strake / Unsplash

Kein Weg vorbei

Wer die unbändige Macht des Meeres in einem Sturm einmal hautnah erlebt hat, wird dem Meer nie wieder so begegnen wie zuvor. Die Erfahrung, dass all unsere Schiffsfahrpläne, Wetterberichte, Flugtickets, Projektsitzungen und so viele weitere "gewichtige Dinge" dem Meer vollkommen egal sind, ist für uns sicherheitsbedachte und technologisierte Menschen einschneidend. Du kehrst nach Hause und bist dir ganz neu bewusst, was alles nicht in deiner Macht steht. Sicherheiten, an welchen sich deine Mitmenschen festhalten, scheinen dir plötzlich sehr wacklig und fadenscheinig. Denn du weisst nun, wie wenig ein Flugticket und ein Fahrplan wert sind, wenn der Sturm aufzieht. Du weisst, was du zu fürchten hast, und dass man sich am Meer nicht einfach so vorbeischlängeln kann.

Noch viel weniger kommst du an Gott vorbei. Keine Chance. Er ist zu real, zu umfassend und zu sehr an deinem Leben interessiert. Das ist kein Grund zur Angst, aber sehr wohl ein Grund zur Furcht. Zum Staunen. Zur liebenden, ehrfürchtigen Anbetung.

Ich bin überzeugt: wenn wir es einmal gewagt haben, unsere Schablonen des "lieben Gottes" hinter uns zu lassen, wenn wir uns auch auf irritierende Aspekte seiner Persönlichkeit einlassen, die uns das Staunen und Fürchten lehren, so werden wir eine neue Tiefe der Beziehung zu ihm entdecken. Seien wir doch ehrlich: Ein Gott, der in unsere Vorstellungen passt, ist ziemlich klein, einseitig und beschränkt. Doch ein Gott, welcher unsere Vorstellungen sprengt, welcher uns irritiert, unsere Weltsicht herausfordert und erweitert, welcher uns jederzeit das Leben nehmen könnte, aber sich uns stattdessen liebevoll zuwendet - das ist ein Gott, der sich zu Recht "Gott" nennen kann.


Photo by Angelo Pantazis / Unsplash

Nimm dir Zeit und lies die Kapitel 38-41 des Buches Hiob, in denen Gott sich Hiob persönlich vorstellt. Lass dir die blumige Sprache und die vielfältigen Beweise seiner Macht auf der Zunge zergehen.

Das ist Gott. In seiner unbändigen Macht und Schönheit. Das ist der Gott, den ich fürchte. Das ist der Gott, den ich von Herzen anbete.


Dieser Artikel ist massgeblich inspiriert durch den Prolog des Buches Gott ungezähmt: Raus aus der spirituellen Komfortzone von Dr. Johannes Hartl.

Du liebst also das Meer?
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