Toleranz ist für mich ein Trendwort. Ein gesellschaftlicher Anspruch, den man erfüllen muss. Doch eigentlich verbirgt sich hinter diesem Wort noch viel mehr. Und einer hat es vorgelebt.
Die Schweiz wird über das Burka-Verbot abstimmen. Im letzten Moment kamen die nötigen Unterschriften für die Volksinitiative zusammen. Eine Kontroverse, welche die Schweiz schon seit einiger Zeit beschäftigt. Es geht um grosse Themen wie Kultur, Religion, Fanatismus, Toleranz - um nur einige Stichworte zu nennen.
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Ein Kommentar zu diesem Thema erregte meine Aufmerksamkeit. Er stammt aus der Feder des Chefredaktors der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), Eric Gujer. Er schreibt:
Toleranz bedeutet nicht, alles anzuerkennen, was von aussen an eine Gesellschaft herangetragen wird. Diese Feststellung muss man sich in Zeiten von Globalisierung, Migration und einem verbreiteten Gefühl des «Anything goes» immer wieder in Erinnerung rufen. Auch der weltoffene, freiheitlich-pluralistische Staat hat die Aufgabe, eigene Massstäbe zu setzen und zu verteidigen.
"Das ist eine erfrischende Aussage", ging es mir beim Lesen des Artikels durch den Kopf. Erfrischend empfand ich die Definition von Toleranz und dass es Eric Gujer überhaupt wichtig erschien, den Begriff Toleranz zu definieren. Ich fragte mich unweigerlich, was ihn dazu veranlasst haben könnte. Ob er wohl eine schwammige Verwendung des Begriffs in unserer Gesellschaft wahrgenommen hatte?
Gleichzeitig forderte mich Gujers Definition heraus, mir meine eigenen Gedanken zu machen. Ich fragte mich, wie ich persönlich denn zum Begriff Toleranz stehe. Etwas erstaunt stellte ich fest, dass ich Toleranz vor allem mit einem unguten Gefühl verbinde. Das überraschte mich und machte mich neugierig. Ich wollte es genauer wissen und ich liess mich auf das Abenteuer der Suche nach einer eigenen Definition ein.
Als erstes schrieb ich nieder, was für Gefühle und Gedanken ich mit dem Begriff der Toleranz verbinde.
Für mich ist Toleranz ein Trendwort.
Ein gesellschaftlicher Anspruch, den man erfüllen muss.
Dem ich kaum gerecht werde.
Ich darf nicht kritisieren.
Angst, ich könnte jemanden verletzen.
Ich darf meine Meinung nicht laut sagen, wenn sie von der allgemeinen Meinung abweicht.
Ich darf keinen Standpunkt vertreten.
Ich darf mich gegenüber Meinungen und Weltanschauungen von anderen nicht abgrenzen.
Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr Fragen stellten sich mir. Eine Grenze ziehen, sich abgrenzen, das passt irgendwie nicht zum Wort Toleranz, oder? "Toleranz sollte grenzenlos sein", dachte ich. Doch diesem Gedanken widerspricht Gujer klar: Er zieht eine Grenze. In seinen Augen bedeutet Toleranz nicht, dass alle Massstäbe anderer Kulturen anerkannt werden sollten. Er zieht die Grenze dort, wo essentielle Massstäbe unseres Staates angegriffen werden, und nennt es dennoch Toleranz. "Darf man denn Grenzen ziehen in unserer aufgeklärten Welt, die sich damit brüstet, gegenüber allem und jedem tolerant zu sein?", fragte ich mich. Ist denn nicht gerade das die Errungenschaft der Aufklärung? Ist nicht der tolerant, der alles duldet, alles gutheisst, immer und überall nickt, möglichst keinen Anstoss erregt?
Im Gespräch mit einem anderen Autor dieses Blogs, Josua Hunziker, machte er mich auf eine Aussage des Autors Abdu Murray aufmerksam. Murray war überzeugter Muslim, bevor er Christ wurde. Er schreibt in seinem Buch Saving Truth:
Toleranz funktioniert nur bei Unterschieden, nicht bei Gleichheit. Niemand ist damit herausgefordert, andere Ideen zu tolerieren, wenn sie sich kaum von den eigenen Ideen unterscheiden. Eigentlich ist es in solch einer Situation sogar sinnlos, von Toleranz zu sprechen. Toleranz wird erst dort nötig, wo nicht nur Gegensätzlichkeit, sondern aufgrund dieser Gegensätzlichkeiten auch Druck und Spannung vorhanden sind.
Das bedeutet also - so meine Schlussfolgerung -, dass es nur dann möglich ist, echte Toleranz zu leben, wenn eigene Werte und Massstäbe klar gelebt und vertreten werden. Diese Gedankengänge haben mich zu meiner eigenen, folgenden Definition gebracht:
Toleranz bedeutet nicht...
... andere Werte zu übernehmen und für gut zu befinden, obwohl sie meiner eigenen Meinung und Weltanschauung widersprechen.
Denn wo eigene Werte zugunsten anderer Werte aufgegeben werden, gleichen sich Werte an. Und dann ist es gar nicht mehr sinnvoll, von Toleranz zu sprechen, wie Murray treffend formuliert hat.
Sondern Toleranz bedeutet...
... Unterschiede zu erkennen und zu respektieren. Es bedeutet, die Menschen, die deutlich andere Werte und Weltanschauungen vertreten, bedingungslos anzunehmen, während ich selbst weiterhin gemäss meinen eigenen Werten und Anschauungen lebe.
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Beim Nachdenken über diese Definition stellte ich erschüttert fest, dass dieser Anspruch noch viel höher ist, als ich dachte. Dass ich diesem Anspruch noch viel weniger genügen kann, als ich angenommen hatte. Ich habe ja schon in meinem Brainstorming formuliert, dass ich den Eindruck habe, dem gesellschaftlichen Anspruch der grenzenlosen Toleranz nicht zu genügen. Doch meine Angst kam daher, dass ich dachte, ich dürfe einfach meine Meinung nicht äussern und ich dürfe niemanden kritisieren.
Diese neue Definition von Toleranz stellt mich noch vor eine viel grössere Herausforderung: Mir meiner eigenen Werte und Weltanschauungen bewusst zu sein, diese klar zu vertreten und gleichzeitig Menschen mit anderen Werten und Weltanschauungen bedingungslos anzunehmen. Wer kann diesem Anspruch genügen? Ich nicht!
Ich fragte mich, ob es denn wohl jemanden gibt, der diesem Anspruch von grenzenloser Toleranz je gerecht wurde. Und ich stiess auf Jesus.
Jesus hat klare Werte gelehrt und gelebt, indem er ganz ohne Sünde lebte. Das heisst, er hat nie gegen die 10 Gebote verstossen. Im Gegenteil, er hat die Latte sogar noch höher gesetzt, als er sagte: "Ihr wisst, dass es heißt: ›Du sollst nicht die Ehe brechen!‹ Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau mit begehrlichem Blick ansieht, hat damit in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen."
Gleichzeitig lebte Jesus bedingungslose Annahme gegenüber allen Menschen und speziell gegenüber denen, deren Werte seinen eigenen total widersprachen.
Ich erinnere mich da an die Begebenheit in der Bibel, wo eine Frau gesteinigt werden sollte, weil sie Ehebruch begangen hatte. Die religiösen Führer der damaligen Zeit brachten sie zu Jesus, um ihn in eine Falle zu locken. Sie wussten genau, dass die Frau etwas getan hatte, das den Werten von Jesus zutiefst widersprach. Darum wollten sie seine Reaktion testen. Und seine Reaktion war verblüffend! Er antwortete: "Wer von euch ohne Sünde ist, soll den ersten Stein werfen."
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Damit hat er echte Toleranz gelebt. Er ist seinen Werten treu geblieben. Aber er hat klargemacht, was es bedeutet, Menschen bedingungslos anzunehmen, unabhängig von ihren Taten und ihren Werten. Durch seine Toleranz und sein sündloses Leben hat er die Ehebrecherin mit ihrem Wertesystem konfrontiert. Dennoch war er nicht gegen sie. Genau so wie er die Ehebrecherin herausforderte, hat er auch die religiösen Führer mit ihrem eigenen Wertesystem konfrontiert. Sie mussten eingestehen, dass sie im Grunde nicht besser waren als diese Ehebrecherin. Niemand getraute sich mehr, einen Stein auf sie zu werfen. Jesus hat ihr mit seiner Toleranz das Leben gerettet.
Er hat nicht nur das Leben jener Frau gerettet. Auch mein Leben.
Mein Leben ist alles andere als perfekt. Ich mache Fehler und stehe offen dazu. Ich schaffe es nicht, ohne Sünde zu leben. Ich schaffe es nicht, diese echte, grenzenlose Toleranz zu leben. Aber weil Jesus mich nicht verurteilt, hat er sein Leben für meines hingegeben. Er ist nicht von seinen Werten abgewichen, als er das tat. Er hat für mich die Möglichkeit geschaffen, dass ich meine Werte überdenken kann. Er hat diese Möglichkeit geschaffen, damit ich fähig werde, genau wie er andere Menschen bedingungslos anzunehmen. Unabhängig von ihren Werten. Für echte Toleranz eben.
Danke Josua Hunziker für die Unterstützung beim Schreiben dieses Artikels - das war echte Teamarbeit!